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Mobben ist nicht Morden“

■ Michael Grüner, Leiter der einzigen deutschen Gewaltpräventionsstelle für Schulen in Hamburg: Zwischen täglicher Schulgewalt und Amoklaufen besteht kein Zusammenhang

taz: Sind verbale Attacken gegen Lehrer oder Rangeleien zwischen Schülern die Vorstufen zu körperlicher Gewalt und Mord?

Michael Grüner: Ein direkter Zusammenhang zwischen der alltäglichen Gewalt an Schulen, zu der nicht zuletzt auch Hänseln und Mobben zählen, und dem Mord in Meißen besteht nicht. Was vergleichbar zu sein scheint, sind vielmehr die Anlässe, die meist ähnlich banal sind.

Wie lässt sich eine Eruption der Gewalt erklären, in der ein Schüler seine Lehrerin tötet?

Das müssen Psychiater herausfinden. Denn all die Mythen über Gewalt an Schulen treffen in diesem Fall ja offensichtlich gar nicht zu: Nach einer Untersuchung, die wir voriges Jahr gemeinsam mit dem Kriminologischen Forschungsinstitut in Hannover gemacht haben, besteht häufig ein enger Zusammenhang zwischen Gewaltaktionen von Jugendlichen und körperlichen Misshandlungen, die sie zuvor in ihrer Familie erfahren haben. Das scheint für den Meißener Schüler aber nicht zuzutreffen. Seine Eltern sollen ihm sogar geraten haben, an ein anderes Gymnasium zu wechseln, wo die Ansprüche nicht so hoch sind. Das spricht gegen die gängige Erwartung, dass ein solch gewalttätiger Schüler aus einer grässlich autoritären Familie kommen müsse.

Vielleicht war er ja einfach dem Leistungsdruck nicht gewachsen? Nach Umfragen haben rund 40 Prozent der deutschen Schüler Angst vor der Penne.

Vielleicht muss man die Tat stärker in Verbindung mit den sozialen Beziehungen innerhalb der Klasse sehen. Hat er eventuell nur stellvertretend für andere gehandelt, die die Lehrerin nicht leiden konnten? Möglicherweise ist er auch gehänselt worden – das ist an Gymnasien weit verbreitet. Man kann die Art der Gewalt nach den Schulformen differenzieren: An den Gymnasien gibt es viel weniger körperliche Gewalt als an Haupt- und Realschulen, dafür aber umso mehr Mobbing, also gezieltes Ausgrenzen Einzelner.

Wer wird gemobbt?

Das kann alle Möglichen treffen: Die, die nicht die angesagte Kleidung anhaben, oder jene, die nicht das richtige technische Equipment wie Handy oder Walkman besitzen. Das kann aber auch mit Hobbys zusammenhängen: An einer Hauptschule kann es vorkommen, dass jemand gehänselt wird, weil er Violine spielt.

Es stimmt also nicht, dass alle jugendlichen Gewalttäter etwa Außenseiter sind und aus sozial schwachen Familien kommen?

Nein. Es gibt nicht die zusammenhängende Theorie, die Gewalthandlungen zu erklären vermag. Natürlich gibt es das: Schüler aus sozial deprivierten Familien, die zu Hause zu kurz gehalten werden und dann zuschlagen, um sich von Mitschülern ein bisschen Geld zu besorgen. Es gibt aber auch den Sohn eines Rechtsanwalts, der im Gymnasium Mitschüler um sich schart, andere schikaniert und das Gefühl von Macht genießt.

An den sächsischen Schulen ist man schnell wieder zur Normalität zurückgekehrt. Ist das der richtige Umgang mit dem tragischen Verbrechen?

So zu tun, als sei nichts passiert, ist eine völlig unangemessene Reaktion. Ein Beispiel: Nach einem Selbstmord an einer Hamburger Schule sind meine Kollegen und ich gleich am nächsten Tag zu der Schule gefahren. Wir haben die Schulleitung bei der Öffentlichkeitsarbeit unterstützt – denn es bringt nichts, abzuwiegeln und die Medien abzuwehren. Gleichzeitig haben wir ausführliche Gespräche mit den Schülerinnen geführt, die den engsten emotionalen Kontakt zu der Verstorbenen hatten. Die Frage, wie es überhaupt zu dem Selbstmord kommen konnte, wurde dann auch in den Klassen thematisiert.

Der sächsische Bildungsminister Matthias Rößler (CDU) will wieder mehr Schulstrafen und die Ranzen seiner Schüler kontrollieren lassen. Halten Sie das für angebracht?

Es kommt äußerst selten vor, dass in der Schule Waffen benutzt werden. An einer Schule in Norderstedt bei Hamburg hat ein Schulleiter vor einiger Zeit eine Waffenkontrolle angeordnet. Und was wurde dabei gefunden? Nur ein paar Schreckschusspatronen.

Wenn man davon ausgeht, dass die Gewalt an Schulen zugenommen hat ...

Einspruch: Die vorliegenden Untersuchungen geben das gar nicht her. Laut einer Befragung in Hamburg von 1992 hat innerhalb von drei Jahren die sprachliche Gewalt zugenommen. Das soll man nicht unterschätzen: Denn vielfach gehen sprachliche Regelverletzungen körperlicher Gewalt voraus. Wir versuchen daher, auf kreative Weise mit sprachlichen Übergriffen umzugehen – zum Beispiel, indem Schüler Listen erlaubter Schimpfwörter zusammenstellen. Aggressivität kann man nicht unterdrücken, aber kanalisieren und mit Regeln versehen.

Was kann man in Meißen und an anderen Schulen an Aufarbeitung leisten?

Die Lehrer sind jetzt zwar zutiefst verunsichert – verständlicherweise. Trotzdem ist es Zeit für die Kollegien, auf ihre Schüler mit der Botschaft zuzugehen: „Ihr könnt euch stets mit allem, was euch betrifft und Angst macht, an uns wenden.“

Interview: Ole Schulz

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