Holzmänner und Holzköpfe   ■  Von Wiglaf Droste

Gelegenheit, den aktuellen Zustand des Proletariats zu besichtigen, gab das Proletariat selbst. Am Mittwochabend stand es in gelben Regenjacken und mit weißen Helmen auf dem Kopf herum, wirkte dabei trotz der Berufskleidung irgendwie nackt im Wind und äußerte, was zu äußern es im Stande ist: „Gerhard! Gerhard! Gerhard! Gerhard! Gerhard!“

Auch das bei allerlei Trinkanlässen (Hochzeit, Beerdigung, Fußballspiel) gern genommene Lied „So ein Tag, so wunderschön wie heute“ wurde dargeboten; es eignet sich im besonderen Maße, von Menschen intoniert zu werden, in denen Musik nicht wohnt. Eine religiöse Komponente durfte keinesfalls fehlen: „Unser Bundeskanzler! Unser Bundeskanzler! Unser Bundeskanzler!“ wurde in einer Mischung aus Vaterunser und Mantra repetiert, und zum Finale gab es den klassischen Choral: „Danke! Danke! Danke!“ Die Aufläufe, die in Lourdes hergestellt werden, sind vergleichsweise agnostische Veranstaltungen.

Mittendrin in der Inszenierung von Rettung, Heil und Hosianna stand Gerhard Schröder, winkend, lächelnd, sein Gesicht aber auch, der Bedeutung seiner Person und der Wichtigkeit der Sache entsprechend, ins Ernste hineinspielen lassend. Schröder war deutlich darum bemüht, historische Vorbilder zu zitieren, als Einiger des Reiches aufzutreten, als Staatsmann Bescheidenheit, ja Würde zu simulieren und dabei dennoch duzerisch in der Rolle des Einervoneuch aufzutreten. Das war ein bisschen viel für den schlichten Niedersachsen. Es war, als hätte Feistus Raclettus, die Figur aus „Asterix bei den Schweizern“, versucht, den Lazarus zu geben.

Das anwesende Proletariat war dennoch voll überzeugt; den zu Statisten ihres eigenen Lebens und zur Claque des Kanzlers herabgesunkenen Arbeitern wurde suggeriert, sie seien die Hauptpersonen in diesem Spiel. Das ließen sie sich nur zu gerne einreden. Begeistert zogen sie die nette Lüge einer weniger trunkenen Betrachtung vor, deren Ergebnis nicht ganz so nett gewesen wäre.

Ihr Tribun, der zuvor ziemlich angeschlagene Gerhard Schröder, genoss den Triumph, der ihm trotz aller Fadenscheinigkeit gelang. Es war die Gelegenheit, auf die er lange hatte warten müssen. Endlich konnte er das atavistische Bild vom Chef, vom starken Mann, mit dem ihn die Bild-Zeitung popularisiert hatte, auf die Leinwand werfen: überlebensgroß Gerhard Schröder. Nur so, aufgeblasen zu einer Autorität, die er nicht besitzt, mit Gesten, die nur auf riesigen medialen Bühnen wirken, funktioniert die Schröder-Maschine. Zur „Chefsache“ hatte er die „Holzmann-Rettung“ erklärt, und – Überraschung! – die Sache klappte! Wer hätte das gedacht?

So zauberte sich Gerhard Schröder quasi selbst aus dem Hut in seiner Nummer als Freund des Volkes. Unterstützt wurde der Populist dabei vom hessischen CDU-Ministerpräsidenten Koch, der sein Amt mit aggressiver Ausländerhetze erlangte. Auch das ist ein altes Bild: Alle stehen zusammen, es gibt keine Parteien mehr, keine Interessen, nur noch die große Volksgemeinschaft, die sich schluchzend in die Arme fällt, verkitscht, rührselig, kopflos. Da war es kein Wunder, dass Gerhard Schröder auf das nahende Weihnachten hinwies: Christ, der Retter, ist nah.