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Strippende Theorie

Bilderreicher Radikalismus: 1973 verfilmte Guy Debord „Die Gesellschaft des Spektakels“  ■ Von Roberto Ohrt

In den Arbeitsheften von Sergej Eisenstein findet man, datiert auf den 12. Oktober 1927, folgende Notiz: „Der Entschluss steht fest, das Kapital nach dem Szenarium von K. Marx zu verfilmen – dies ist der einzig mögliche formale Ausweg.“ Das Projekt des russischen Regisseurs war in den 60er Jahren in Paris bekannt wie eine Legende der theoretischen Notwendigkeit, und die Situationisten, die sich seinerzeit als die einzigen Statthalter einer materialistischen Analyse der modernen Zeit begriffen, konnten Eisensteins Skizze nur als Herausforderung verstehen.

Guy Debord, Gründungsmitglied der Situationistischen Internationale, hatte 1967 das Buch Die Gesellschaft des Spektakels veröffentlicht. Nach dem Mai '68 galt es als der theoretische Zündstoff dieses Aufstands; später wurde es oft genug Das Kapital der modernen Medienkultur genannt. So entstand Anfang der 70er Jahre der Plan, die Kritik der Bilder im Stoff ihres Gegenstandes selbst sichtbar zu machen.

Hierzulande erscheint uns dieses Projekt vielleicht als außergewöhnliche Sache, aber dafür gab es genügend Vorzeichen. Debord war im französischen Film seit langem ein gefürchteter Unbekannter. Er hatte sich in den künstlerisch-intellektuellen Kreisen des Paris der unmittelbaren Nachkriegszeit als radikaler Regisseur vorgestellt. Sein erster Film von 1952 – im Alter von 20 Jahren gedreht – war nichts als Text, ein Terror der Sprache. Allerdings beleuchtete das bilderlose Spiel mit seinen letzten Sätzen eine klare Situation: Es inszenierte ein Bild der Dunkelheit als Nacht, Stunde der Trennung, Weg zum Selbstmord, Schweigen des Kosmos... und mit dieser monochromen Leere wurde das Kinopublikum dann als elender Garant und Rest der Realität allein gelassen.

Der Film von 1952 war weniger als sein flacher Schatten, und so verwundert es ein wenig, wenn der Radikalismus sich in dem Film Die Gesellschaft des Spektakels – 1973 gedreht – ziemlich bilderreich und anschaulich präsentiert; es ist ein 90-minütiger Film ohne konzeptuellen Entzug als Angriff auf die Kinosituation. Lediglich die von Guy Debord gesprochenen Texte ziehen unbeeindruckt über die Bilder dahin; sie entfalten ihre theoretische Komplexität ohne irgendeine Rücksicht auf das Verständnis der Zuschauer und vergiften die Situation des einfachen Konsums der Sache mit der etwas unbehaglichen Gewissheit, nicht viel verstehen zu können. Doch andererseits ist selbst diese Stimme konkret; sie schillert zwischen Melancholie und einer Unerbittlichkeit, die das organisierte Elend der Warenwelt so grundlegend erschüttern will, dass es sich nie mehr davon erholen kann.

Im Vergleich mit den Produkten anderer revolutionärer Organsiationen ihrer Zeit (und Vorlieben, wie sie auch heute noch zu beobachten sind), waren die situationistischen Zeitschriften und Propagandaprodukte immer ungewöhnlich reich illustriert und in ihrer Ästhetik genau definiert. Die Aufmerksamkeit für den Schein auch der eigenen Sache unterschied die Situationisten so deutlich von den politisch-revolutionären Zeitgenossen, dass der luxuriöse Glanz, den sie sich anmaßten, nicht nur als Zumutung, sondern gelegentlich sogar als Schock wirkte.

Eine ungewöhnliche Anmaßung war es auch noch 1973, als Debord sein extrem anspruchsvolles, theoretisches Werk in Spielfilmlänge ins Kino brachte. Den Glamour dieser Geste kann man heute am Werk selbst kaum noch nachempfinden, denn es präsentiert uns die Mächte der 60er Jahre im recht farblosen Mantel von schwarz-weißen Dokumenten: die alte Welt, die schon in den Illustrationen der situationistischen Zeitschrift vorgeführt wurde, tanzt vor, wie schlecht sie das Laufen gelernt hat. Sie produziert, strippt, rollt, marschiert, salutiert. Und da dieses Bild ein wenig veraltet gezeichnet ist, kann Debord zurücckehren lassen, was eine noch ältere Sache ist: Aufstand und Revolution. Hinter den Bildern revolutionärer Situationen tauchen dann auch schon die Schatten noch fernerer Figuren auf, die Botschafter einer Romantik des einsamen Kampfs.

 heute, Metropolis, 21.15 Uhr

(in der Reihe „das weite suchen“, mit Einführung und Diskussion)

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