: Die Erziehung des Herzens in Kirgisien
■ Bienen ärgern, Busen begaffen – Tom Sawyer in Zentralasien. „Beschkempir“ von Aktan Abdikalikov erzählt von alten Riten und der fröhlichen Jugend eines Adoptivkindes
Beschkempir bedeutet so viel wie „fünf alte Frauen“, in Aktan Abdikalikovs Film ist es der Name des jugendlichen Helden. Fünf alte Frauen sind es denn auch, die zu Beginn des Films auf einem Teppich unter freiem Himmel zusammenkommen. Glückwunschformeln sprechend, schieben sie sich bunte Betttücher zu, die am Ende auf einer Kinderwiege ausgebreitet werden. Ein Säugling brüllt – man ahnt, dass man hier Zeuge einer Art Taufe wurde, aber erst im Laufe des Films erschließt sich der eigentliche Sinn des Rituals: Der Sohn einer kinderreichen Familie wird einer bis dahin kinderlosen Mutter übergeben.
Die geschilderte Sequenz bildet sozusagen die Ouvertüre dieses kirgisischen Films, und wie bei jeder gelungenen Komposition wird dabei nicht nur das Thema vorgestellt, sondern auch in die formale Gestaltung eingeführt: Im Unterschied zum restlichen Film in Farbe gedreht, funktioniert sie wie eine Einladung an den Betrachter, sich auf einen gewissen Modus des Schauens einzustimmen. Die Muster der Stoffe, die die Frauen tragen, ihre Hände, ihre Gesten – es wird einem Zeit gelassen, das alles wahrzunehmen, ohne dass viel erklärt würde.
Der eigentliche Film ist – bis auf wenige mit Bedacht gesetzte Momente – in schwarzweiß und handelt von jenem brüllenden Säugling ein paar Jahre später. Beschkempir ist nun in dem Alter, welches man landläufig als Schwelle zum Erwachsensein bezeichnet. Mit frisch rasiertem Schädel sehen wir ihn mit Freunden losziehen und typische Jungsstreiche ausführen, sozusagen ein Tom Sawyer in Kirgisien: Sich mit Lehm Arme und Gesicht beschmieren, dann ein Bienennest aufscheuchen und in verzücktem Schrecken ganz schnell wegrennen bis zum erlösenden Sprung ins Wasserloch. Durch Bretterzaunspalten nackte Brüste begaffen. Vogeleier klauen. Es ist das Alter, in dem die Jungen aus Sand keine Burgen mehr bauen, sondern Frauenkörper modellieren, dabei aber noch verlegen kichern.
Dem abenteuerreichen Müßiggang der Jugend steht der Fleiß der Erwachsenen gegenüber. Ständig wird hier etwas gefertigt, getragen, gejagt, gehämmert, befestigt, im zähen Rhythmus ruralen Arbeitens, bei dem der Tag mit ruhiger, aber steter Tätigkeit gefüllt sein will. So langsam bilden sich vor diesem Hintergrund die Konfliktpotenziale heraus. Da ist Beschkempirs allzu strenger Vater, der meint, seinen Sohn ständig beschimpfen zu müssen, da gibt es Aynura, die die Welt ganz anders aussehen lässt, kaum dass sie des Weges kommt, und den besten Freund, der auf einmal behauptet, Beschkempir sei adoptiert.
Aber da hat man längst vergessen, dass man sich mit dem Film in der Fremde befindet und eigentlich kein Kirgisisch kann. Man versteht alles und hat sich ganz ans Schauen verloren, ähnlich den gezeigten Dorfbewohnern, die an einer Stelle dicht gedrängt, alt und jung, stehend und sitzend in einer Art Freiluftkino mit geradezu feierlicher Inbrunst einen indischen Film verfolgen.
„Beschkempir“ ist ein Film der so genannten Nouvelle Vague des zentralasiatischen Kinos. Was Mitte der 90er als Neue kasachische Welle begann, wird neuerdings auf die gesamten einstigen zentralasiatischen Sowjetrepubliken ausgeweitet. Nur selten hat es bislang einer dieser Filme bei uns bis in die Kinos geschafft. Hinter dieser Nouvelle Vague steht weniger ein gemeinsames ästhetisches Programm als vielmehr der Versuch – nach dem Motto: Gemeinsam sind wir stark –, ein Etikett zu finden, mit dem sich das Kino aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion präsentieren lässt.
In der ruhigen Beobachtung seiner Helden lässt Beschkempir vor allem an ein östliches Vorbild denken: an die Filme Yasujiro Ozus. Wie dieser übersetzt er die Konflikte seiner Kultur nicht für ein westliches Publikum und ist doch stets verständlich. Ähnlich wie bei Ozu kann man auch in „Beschkempir“ eine Form von Lebensweisheit erkennen, die viel mit dem Respekt vor Umgangsformen und Ritualen zu tun hat. Die anerkannte Gültigkeit der alltäglichen Rituale, das Eingebundensein in Traditionen ist es, die es Abdikalikov möglich macht, sein Land als letztlich glückliche Gegenwart darzustellen, in der Alt und Neu ineinandergreifen, ohne sich ins Gehege zu kommen. Als die Großmutter stirbt, erfährt Beschkempir die Wahrheit über seine Herkunft. Bei der Beerdigung übernimmt er als Enkel die Rolle, ihren letzten Willen vor der Dorfgemeinde zu verkünden. Unter Tränen beginnt er zu sprechen, dann wird seine Stimme fester. Noch eine symbolische Handlung, die letzte im Film, denn sie führt in ein neues Lebensalter. Barbara Schweizerhof ‚/B‘„Beschkempir“. Regie: Aktan Abdikalikov. Mit Mirlan Abdikalikov, Albina Imasheva u. a. Kirgisien/Frankreich, 81 Min.
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