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Sie nannten ihn Domplatz

Verfassungsrichter Paul Kirchhof war der Star am Zweiten Senat. Zahlreiche teure und bahnbrechende Urteile stammen aus seiner Feder. Er hat juristische Knoten durchschlagen und auch harte Niederlagen eingesteckt. Jetzt muss er Karlsruhe verlassen. Die Bilanz eines Mythos zieht Christian Rath

Was für ein prächtiger Finanzminister er wäre. Einer, der sich ganz frei machen könnte vom Bestehenden und Überkommenen – und der dann endlich die radikale Steuerreform durchsetzen würde. Er würde ein neues Modell entwerfen und es mit List und Sturheit gegen alle Kleingeister und Lobbyisten durchsetzen. Von oben herab milde lächelnd.

Ja, so ein Finanzminister wäre Paul Kirchhof. Aber er will nicht Finanzminister werden. Angeblich will er nicht einmal in die Politik, obwohl er jetzt ja könnte. Denn zum Jahresende muss er nach zwölf Jahren als Richter am Bundesverfassungsgericht ausscheiden. Ein Mythos verliert seinen Ort. Kaum zu glauben, dass Paul Kirchhof einfach zurückgeht an die Heidelberger Universität. Denn dieser Mann ist zum Sinnbild des Richters geworden, der die Welt kraft seiner Dominanz aus den Angeln heben kann.

Wie wohl kaum ein anderer Verfassungsrichter vor ihm hat Kirchhof bahnbrechende Urteile in Serie produziert und war damit zugleich zum Hoffnungsträger und Angstmacher geworden. Die oft beschworene richterliche Zurückhaltung war jedenfalls seine Sache nicht. In Karlsruhe nannten ihn manche nur noch „Domplatz“, denn „Kirchhof“ passe einfach nicht zu ihm. Zuständig war Kirchhof für die Steuern sowie das Völker- und Europarecht. Der frühere Finanzminister Theo Waigel stellte ihn einmal als „meinen teuersten Richter“ vor, weil Kirchhof regelmäßig milliardenteure Urteile produzierte. So erklärte der Zweite Senat, dem er angehörte, 1991 die Besteuerung von Kapitalzinsen für verfassungswidrig, weil sie zu leicht umgangen werden konnte.

Zwei Jahre später setzte er durch, dass das Existenzminimum steuerfrei zu sein habe. 1995 verlangte Karlsruhe eine Neuregelung von Vermögens- und Erbschaftssteuer. Bei der Vermögenssteuer waren die Hürden für eine Reform schließlich so hoch, dass diese Steuerart kurze Zeit später ganz gestrichen wurde. Kirchhofs letztes Milliardenurteil erging im November vorigen Jahres, nach dem Familien steuerlich um einige Milliarden zu entlasten seien. An der Umsetzung dieser Entscheidung knabbert die rot-grüne Regierung noch heute.

In all diesen Fällen war Paul Kirchhof Berichterstatter, das heißt, er und seine drei Mitarbeiter haben die Urteile vorbereitet und einen ersten Entwurf geschrieben. Bei den Beratungen im Senat mussten aber immer noch die anderen sieben RichterInnen überzeugt werden, unter anderem die resolute Gerichtspräsidentin Jutta Limbach. Manche KollegInnen sind vom Starkult um Paul Kirchhof ziemlich genervt und listen schon mal auf, welche Passagen in so genannten Kirchhof-Urteilen gar nicht von ihm stammten. Öffentlich werden darf dies aber nicht – das Beratungsgeheimnis verlangt es so.

Niemand aber bestreitet: Spektakuläre Steuerurteile des Verfassungsgerichts gibt es erst, seit Kirchhof die Zuständigkeit fürs Steuerrecht übertragen wurde, und das war 1990. „Zuvor war zehn Jahre lang kein Steuergesetz für verfassungswidrig erklärt worden, selbst wenn es noch so fragwürdig war“, erinnert sich Steuerrechtsprofessor Joachim Lang.

Dass Kirchhof sich in Karlsruhe überhaupt seinem Lieblingsthema widmen durfte, war alles andere als selbstverständlich. Normalerweise muss sich ein Verfassungsrichter in Karlsruhe in ein völlig neues Rechtsgebiet einarbeiten. So wurde aus Dieter Grimm erst in Karlsruhe ein viel beachteter Medienrechtler, und der Baurechtsexperte Jürgen Kühling musste sich mit dem Arbeitsrecht begnügen. Doch Kirchhof hatte Glück. Der Erste Senat war überlastet und wollte das Steuerrecht loswerden. Also griff Kirchhof zu und zog das Los seines Lebens.

An der Universität, zuerst in Münster, dann in Heidelberg, konnte der heute 56-Jährige immer nur kritisieren, jetzt hatte er plötzlich selbst einen Zipfel der Macht in der Hand. Und Kirchhof merkte, wenn er an diesem Ende nur kräftig genug zog, stand die Macht plötzlich nackt da und musste sich von ihm sagen lassen, was zu tun ist. Seine zwei Ziele dabei: Das Steuerrecht sollte einfacher werden, und die Leute sollten „nicht übermäßig“ viel Steuern zahlen.

Zunächst wirken seine Steuerurteile ausgewogen. Die Reichen sollten nicht mehr als etwa „die Hälfte“ ihrer steuerpflichtigen Einkünfte an den Fiskus abgeben müssen, das Existenzminimum der Armen sollte steuerfrei bleiben, und die Belastungen der Familien sollten im Steuerrecht berücksichtigt werden. Ein Potpourri aus Wohltaten also. Ist es Zufall, wenn unter dem Strich Wohlhabende von ihnen deutlich stärker profitieren, etwa beim Familienlastenausgleich?

Vielleicht ist dem vierfachen Vater Kirchhof mit seinem Familienurteil genau das passiert, was er dem Gesetzgeber immer vorwirft: Wenn mit dem Steuerrecht gesteuert wird, kommt das Geld oft nicht bei den Richtigen an, und das Steuersystem wird obendrein immer komplizierter. Seinem wissenschaftlichen Ziel, ein leicht verständliches Steuerrecht zu schaffen, ist er jedenfalls keinen Schritt näher gekommen.

Gescheitert war auch der strategische Versuch, die Einführung des Euro zu verhindern. Im Maastricht-Urteil hatte sich der Zweite Senat die Befugnis angemaßt, auch über Handlungen der EU-Organe zu urteilen, und damit indirekt zu Klagen gegen die Währungsunion eingeladen. Ausgearbeitet hat dieses Urteil wiederum Paul Kirchhof. Und da von ihm auch bekannt war, dass er das Ende der D-Mark sehr skeptisch sah, begannen die Euro-Gegner zwei und zwei zusammenzuzählen. Selten nahm die Öffentlichkeit eine derartige Komplizenschaft von Kläger und Richter an wie hier.

Als vier Professoren schließlich eine Verfassungsbeschwerde gegen den Euro einreichten, zelebrierten sie bereits die bloße Abgabe der Klageschrift mit Fernsehen und Pressekonferenz – so sicher zeigten sie sich der Vollstreckung ihres Anliegens durch Kirchhof. Doch da war es schon zu spät. Weil Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer sich mit dem Euro abgefunden hatte, konnte auch das Gericht keinen Hebel ansetzen. Skeptischer zu sein als die Bundesbank, damit wäre auch ein Kirchhof nicht durchgekommen.

Schließlich segnete auch Karlsruhe die Währungsunion ab. Kirchhof durfte zum Trost einen seiner schönen Aphorismen beisteuern: „Geld ist geprägte Freiheit“, hieß es prosaisch in der Entscheidung. Ein Sondervotum hat Kirchhof nicht geschrieben, denn er neigt nicht dazu, seine Niederlagen zu zelebrieren.

Dazu sieht er sich wohl viel zu sehr als Siegertyp. Auch inhaltlicher Kritik an seinen Urteilen begegnet er stets souverän. Ein „gewisser Hang zur Selbstgefälligkeit“ (Handelsblatt) kommt ihm dabei sicher zugute. Dabei sieht Kirchhof im direkten Schlagabtausch mit juristischen Widersachern nicht immer gut aus. Als etwa Günter Hirsch, der deutsche Richter am Europäischen Gerichtshof, nach Karlsruhe kam, um das Maastrichturteil zu zerpflücken, landete der Europarichter einen klaren Punktsieg.

Seine kühnen Konstruktionen kann Kirchhof am besten in Vorträgen ohne Konterpart verkaufen – wenn er in freier Rede, ausgerüstet nur mit kleinen Karteikärtchen, die Zuhörer für sich einnimmt. Kirchhof ist ein brillanter Redner, aber kein vertrauenserweckender Jurist. Dass der rechtswissenschaftliche Luftikus in Fachwelt und Öffentlichkeit nicht mehr Kritik einfing, hat natürlich auch damit zu tun, dass seine Ergebnisse oft gelegen kamen oder betont ausgewogen klangen.

Im Streit um Bundeswehreinsätze außerhalb der Natogrenzen etwa erklärte der Zweite Senat (Berichterstatter: Paul Kirchhof), dass es die jahrzehntelang angenommenen Grenzen für weltweite Armeeeinsätze gar nicht gebe. Zum Ausgleich präsentierte das Gericht noch ein im Grundgesetz nicht vorgesehenes Mitspracherecht des Bundestages. Am Ende waren fast alle zufrieden.

Das gefiel Kirchhof: die Rolle des guten Königs, der einen Knoten durchschlägt, den die Politik zu entwirren nicht schafft. Dass dabei die juristische Kunst oft zur Zweck-heiligt-die-Mittel-Justiz verkam, könnte man ihm nachsehen, wenn er wenigstens dazu stehen würde. Doch zu einem derartigen Bekenntnis war Kirchhof nicht bereit. Allen Ernstes erklärt der Staatsrechtler, er sei als Richter nur „Bewahrer“ der Verfassung, ein subjektives Vorverständnis bringe er in seine Arbeit nicht ein.

Geglaubt hat ihm diesen Unsinn niemand. Im Gegenteil: Kirchhof war längst zum Mythos geworden. Wenn ein Verfahren in seinen Zuständigkeitsbereich fiel, raunten die Beobachter: „Da ist alles möglich.“ Kirchhofverfahren waren wie juristisches Roulette. Zuletzt etwa beim Streit um den Länderfinanzausgleich. Die Südländer hätten ihre vorwitzige Klage sicher nicht eingereicht, wenn sie nicht auf Kirchhof, den parteilosen Konservativen, hätten hoffen können.

Vielleicht ist es ganz gut, dass das Verfahren nicht mit dem großen Knall geendet hat. So wurde Kirchhof am Ende seiner Karlsruher Zeit noch einmal auf Normalmaß zurechtgestutzt. Doch die Öffentlichkeit hielt sich an diesem verpatzten Abgang nicht lange auf. Sie beginnt bereits, den Kirchhofmythos auf seinen Nachfolger, den Münchener Udo Di Fabio, zu projizieren. Wenn Di Fabio nur will, kann er die Rolle seines Vorgängers sofort übernehmen. Dagegen werden wir auf Kirchhof als Finanzminister noch etwas warten müssen. Zumindest bis zum nächsten Regierungswechsel.

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