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Fluchten vor dem Fernsehen

Das Kreuzberger Eiszeit-Kino belebt die Tradition des populären türkischen Kinos in Berlin. Filme wie „Masumiyet“ werben für die Enkel von Yilmaz Güney  ■   Von Daniel Bax

Es ist Donnerstagabend im Kreuzberger Eiszeit-Kino. Eigentlich sollte jetzt der türkische Film „Masumiyet“ anlaufen. Doch die erste Vorstellung fällt aus: Die Filmrollen sind falsch aufgespult, sie zu entwirren dauert seine Zeit. „Da haben die Kanaken wohl wieder Scheiße gebaut“, meint lakonisch Tamer, der hinter dem Tresen des Kinos steht, und grinst. Hinter ihm ist schon der Samowar aufgebaut, für den obligatorischen türkischen Tee, doch die ersten Besucher musste er wieder nach Hause schicken.

Solch kleine Katastrophen kommen in den besten Kinos vor. Mit größeren Unwägbarkeiten hat man bisher nicht zu kämpfen gehabt im kleinen Eiszeit-Kino in Kreuzberg, allen Unkenrufen zum Trotz. Denn einfach ist es nicht, aktuelle Filme aus der Türkei in Eigenregie nach Berlin zu bringen. Mal wittern türkische Verleihfirmen das große Geschäft und stellen fantastische Forderungen, mal versagen die Übersetzer, sodass die deutschen Untertitel auf der Leinwand ein amüsantes Eigenleben führen. Aber ansonsten: Erfolg auf der ganzen Linie. Das Eiszeit hat sich mit seinem türkischen Programm etabliert und ist damit bundesweit einzigartig.

„Wir haben den Anspruch, das populäre Kino der Türkei zu zeigen, und sind dabei abhängig von der Verfügbarkeit der Filme“, sagt Andreas Wildfang vom Eiszeit-Kino. „Aber unser persönlicher Geschmack spielt bei der Auswahl natürlich auch eine Rolle.“

Seit die Eiszeit-Crew vor rund zwei Jahren die ersten Kassenschlager vom Bosporus nach Deutschland brachte, gehören türkische Filme wieder zu den Konstanten der Berliner Kinoszene. Damit wurde eine Tradition wieder belebt, die in der vergangenen Dekade völlig abgerissen war. Denn die „Gastarbeiterkinos“, die in den 70ern in vielen deutschen Städten aus dem Boden geschossen waren, gerieten durch den Video-Boom der 80er ins Abseits. Während allerorten türkische Videoläden öffneten, schlossen sie ihre Pforten. Das heutige Babylon in der Dresdener Staße war früher ein türkisches Kino, ebenso das Sputnik Wedding. In den 90ern dann machten die vielen neuen Privatsender, die von Istanbul aus per Satellit in deutsche Wohnzimmer strahlen, dem bunten Videowesen den Garaus.

Das türkische Privat-TV ist heute der Hauptkonkurrent des Eiszeit-Kinos. Denn was schon über Satellit zu sehen war, lohnt nicht mehr die Beschaffung auf Zelluloid. Ein anderer Konkurrent sind die großen deutschen Verleihe, die sich, nicht zuletzt angeregt durch den Eiszeit-Erfolg, die Rechte an kommerziell aussichtsreichen Filmen wie „Eskiya“ oder jüngst „Propaganda“ sichern, um sie mit großem Werbeaufwand deutschlandweit in die Kinos bringen. Das Publikum, vor allem das türkische, strömt in diese Vorstellungen.

Eine vielschichtige Low-Budget-Produktion wie „Masumiyet“, die das Eiszeit-Kino nun seinem Publikum präsentiert, kann auf solch einen großen Andrang nicht hoffen. Der Film handelt vom Ex-Häftling Yusuf (Güven Kirac), der, widerstrebend seinem gewohnten Leben entrissen, den Weg in die Welt außerhalb der Gefängnismauern sucht. Dabei trifft er auf Leidensgenossen, die nicht weniger verloren wirken, etwa die Prostituierte Ugur (Derya Alabora) und ihren unglücklichen Partner Bekir (Haluk Bilginer). Der setzt seinem Leben nach einem Streit mit einem Kopfschuss ein Ende, unschön und unspektakulär, und Yusuf rückt an seine Stelle, allerdings ohne Aussicht, das nun gemeinsame Geschick in günstigere Bahnen zu lenken.

Ganz ohne große Gesten erzählt „Masumiyet“ von Sehnsucht und Schicksal, Hoffnung und Selbstzerstörung in der türkischen Stadt, und zeigt dabei, indem er selbst so heiße Eisen wie Folter in Polizeihaft und Gewalt in der Familie betont beiläufig streift, gesellschaftliche Abgründe in ihrer Alltäglichkeit. Fluchten vor dieser Trostlosigkeit erlauben allein die altmodischen Melodrame, die allgegenwärtig über die Fernsehgeräte flimmern – ein ironischer Verweis auf die ungebrochene Anziehungskraft der türkischen Traumfabrik der frühen Jahre –, während Porträts von Yilmaz Güney, die neben vergilbten Starfotos an der Wand des Hotelzimmers kleben, an den Übervater des türkischen Autorenfilms erinnern.

Im Eiszeit-Kino dagegen hängt kein Bild von Yilmaz Güney. Vielleicht erleichtert das den Enkeln, aus seinem Schatten zu treten.

„Masumiyet – die Unschuld“ (OmU). Türkei 1997. Regie: Zeki Demirkubuz. Im Eiszeit, Zeughofstr. 5, Kreuzberg

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