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Anarchoider Opa-Enkel-Pakt

Schickt „Käpt’n Blaubär – Der Film“ unsere Kinder mit völlig antiquierten 68er-Werten ins harte dritte Jahrtausend? Eine besorgte Würdigung ■ Von Diedrich Diederichsen

Kinder, wie die Zeit nicht vergeht. Das kulturelle Kontinuum der 1957 Geborenen – meiner Generation, der Generation von Walter Moers – hört wohl gar nimmer auf. Durch die Eroberung der Weihnachtsmärchen-Leinwand durch die von Moers geschaffene Blaubär-Welt wird nun schon wieder eine neue Generation von Kindern, die in den 90ern aufwuchsen, weiterhin und nachdrücklich mit den Werten, Haltungen und Präferenzen imprägniert, die schon die gelungeneren Kindheiten der 60er-, 70er- und 80er-Jahre auszeichneten. Da fragt es sich, wer denn diese Kinder auf eine Gegenwart und Zukunft vorbereitet, in der der I-mac und der Houllebecq das kulturelle Sagen haben, mithin post-abenteuerliche Technologie und passionierte 68er-Hasser hegemonial sein werden.

Die Abenteuer des allerdings ebenso linken wie postmodernen Altseefahrers mit seinen stets die Erzählebenen wie auch Medienbedingungen mit reflektierenden Klugscheißer-Enkeln unterscheiden sich denn auch nur in wenigen Punkten von dem, was Autoritäten wie Carl Barks/Erika Fuchs für meine Generation schon in den 50ern an Humorstandards gesetzt haben – Standards, die sich heutzutage von den Überschriftenschreibern der FAZ-Sachbuchredaktion bis zu den Drehbuchautoren von „Last Days of Disco“ kulturnischenübergreifender Verbreitung erfreuen. Blaubärs Lügengeschichten orientieren sich stilistisch an dem von Kunstmärchen des 19. Jahrhunderts ebenso wie vom Intellektuellenjargon der 20er-Jahre beeinflussten Sprachreichtum, den Fuchs seinerzeit für den Stil der Dagobert-Generation entwickelt hat, zuweilen durchsetzt von speziellen Moers-Vorlieben wie der für alles, was „mundgemalt“ oder „mundgeblasen“ ist, für orientalisierende 1.001-Nacht-Überbietungsrhetorik oder apologetische Deklamationen, die auf einer rhetorischen Frage enden, die dann mit „wohl kaum“ verneint wird.

Die Kinder sprechen psychoanalytisch ebenso wie kritisch-theoretisch eingefärbtes Intellektuellendeutsch einer ansonsten aber eher technisch-pragmatischen Generation, die in den 50er-Jahren mal die „illusionslose“ genannt wurde – so war es, wenn man jung war, als Tick, Trick und Track jung waren und Max Frisch den „Homo Faber“ schrieb. Postmodern schließlich wird’s dann wieder, wenn jede Lüge Blaubärs stets zu einer Wahrheit führt, die dann auch noch dadurch bewiesen wird, dass sie aus größter Not hilft. Die großen Erzählungen sind zwar nicht mehr verbindlich, aber sie können äußerst praktisch sein.

Käpt‘n Blaubär unddie Revolution

Ein weiteres starkes Element der Kontinuität bildet die Stimme des Schauspielers Wolfgang Völz, des wohl meistbeschäftigten Darstellers genau der Zeit von 1963 bis heute (eben der Zeit, die Leute wie Moers und ich vorm Fernseher verbracht haben), der gerade deswegen so gut geeignet für diesen Coup ist, weil er trotz Paraderollen in loungefähigen Kultserien der 60er (Mario de Monti in „Raumpatrouille“, Johann in „Graf Yoster gibt sich die Ehre“) nie nostalgieverdächtig war, da er zu keiner Zeit im angegebenen Zeitraum nicht präsent war. Man konnte ihn sich noch nie zurückwünschen, hatte aber auch nie was dagegen, dass er immer da war. Das Handwerk des hamburgisierenden Tünens (norddt. für „die Unwahrheit sagen“, aber auch „fantasieren“) lernte Völz noch von Hans Albers persönlich, dem er kurz vor dessen Tode bei Dreharbeiten als kleiner Gangster eine runterhauen durfte. Völz hat seitdem einen unerschütterlichen Respekt vor Albers’ Unerschütterlichkeit („er hatte ja einen unendlichen Humor“) und stellt mit seinem Kunstmissingsch (Spielart des Hamburgischen) sogar noch Zusammenhänge zur Intonationskultur meines Großvaters (1889 bis 1967) und Hamburger Lokalphänomenen wie der ersten Nachkriegsgeneration des Ohnsorg-Theaters her.

Dass 68 das geheime Zentrum der hier beschworenen BRD-Kultur ist, obwohl wir 57er unser kulturelles Leben als Anti-68er begannen (wie seit uns alle anderen, die bis heute nicht müde werden, „den von anderen längst heruntergetragenen Müll zu sortieren“, wie Wiglaf Droste neulich so treffend in dieser Zeitung schrieb), aber im Gegensatz zu unseren Nachfolgern auch früh genug damit aufhören konnten, wird an den zwei biografischen Erzählungen deutlich, die die beiden Gegenspieler Blaubär und seinen Erzfeind und ehemaligen Klassenkameraden, den „verrückten Wissenschaftler, Künstler und Fernschachpartner“ Feinfinger, in dieser Abenteuergeschichte positionieren. Auf die je respektlose Nachfrage, wann sie denn das letzte Mal in See gestochen seien bzw. die Welt vernichtet hätten, antworten beide nach einigem Nachdenken: 1968.

Und von der Perspektive und auch dem Wissen eines 68ers aus organisiert Blaubär seinen Re-Entry in die Welt der Abenteuer, die natürlich auf einem ozeanisch grenzenlosen, unaufhörlich Wünsche codierenden und decodierenden weltumspannenden Meer aus spitzen, zackigen Wellen spielen: Blöd geht über Bord. Haie verfolgen ihn. An ihren Handys erkennt der gesellschaftskritische Blaubär: Es sind Immobilienhaie. Dann müsse dies wohl der „Kapitalistische Ozean“ sein, in den die kleine Gruppe über Nacht steuerlos getrieben ist. Beherzt wirft Blaubär die Besitzurkunde eines Grundstücks am Starnberger See mit unverbaubarer Sicht auf die Alpen in die Fluten, auf die sich die Haie sofort stürzen und vom armen Blöd ablassen.

Feinfinger erinnert uns an seine vielen Vorgänger aus der großen Galerie böser, aber auch leicht verzweifelter, melancholischer und doch knarziger, kieferbetonter Moers-Männer vom großen Bimpf bis zum dodekaphonophilen Lastwagenfahrer und wird von Helge Schneider gesprochen. Das wirkt sich bei dieser Mischung aus Ernst Stavro Blofeld und Dr. Phibes vor allem musikalisch aus: Das böse Genie neigt – altes vulgärhumanistisches Klischee – halt immer zu den formalsten (unmenschlichsten) unter den Künsten und Denkformen, der Musik und der Mathematik. So auch dieses hier. Auf einer Orgel produziert Feinfinger immaterielle Geist-Folterungen, wenn er nicht anderweitig stolz seine Kakophonien für Kreide an Schultafeln aufführt. Obzwar er Blaubär schon in einem von Cronenbergs „Scanner“ inspirierten Geist-Duell unterliegt, retten ihn doch vorläufig seine Schliche, bis er schließlich endgültig, nämlich politisch scheitert: Die Wasserzwerge, dressierte Wassertropfen, die für Feinfinger Meereskatastrophen, Springfluten und Seebeben erzeugen, klagen über ihre Arbeitsbedingungen, streiken und lehren Kinder und Bärchen so die abschließende Moral: So ergeht es allen, die ihre Angestellten schlecht behandeln. Die Wahrheiten dieser Generation sind in letzter Instanz eben immer politisch.

Die Enkel und der neue Mythos

Bei Levi-Strauss gibt es einen Begriff für den Vorgang, einen Mythos zu erhalten und dennoch neuen Bedingungen anzupassen, indem man seine Struktur intakt lässt, aber die Akzente leicht verschiebt. Ich habe den Ausdruck vergessen, aber er wäre angemessen für die hier angewandte Operation, aus drei Neffen drei Enkel zu machen. Als tünender, aber regierender Opa vereinigt Blaubär darüber hinaus zwei Rollen auf sich: Donald, den haltlosen Angeber, und Dagobert, die Autoritätsperson, die bei Abenteuern das Sagen hat. Hein Blöd wiederum, hier der Repräsentant der mittleren Generation, übernimmt dagegen von seinem Äquivalent Donald ganz eindimensional ausschließlich dessen Losertum, indem er einfach nur eindrucksvoll holsteinisch blass und blöd ist. Das Männerkollektiv bleibt ansonsten fast intakt. Frauen sind ebenso wenig wie Computer, DDR-Bürger oder andere Neuerungen der 90er an Bord. Aber eben nur fast: Wer genau hinsieht, erkennt, dass eines der drei kleinen Bärchen, das rosane natürlich, ein Mädchen ist. Wie bei Daisy und ihren Nichten ist ihr primäres Geschlechtsmerkmal eine Haarschleife.

Muss ich ein schlechtes Gewissen haben, dass ich in diesem Film Opa, Blöd und Bärchen, Mann, Ente und Kind sein durfte? Muss ich auf die Gefahren eines Eskapismus in kritisch-altbundesrepublikanische Zeiten hinweisen, die Kindern drohen, die in dieses Weihnachtsmärchen gehen statt in die prokapitalistischen und hochtechnologischen von Disney? Oder beginnt meine eigene Gegenwartsfremdheit schon damit, dass ich glaube, die Zahl der Weihnachtsmärchen sei für heutige Kinder in irgendeiner Weise beschränkt? Und sollte ich nicht einen Film mit aller Kraft unterstützen, der noch einmal längst chancenlos gewordenen Positionen die Stange hält? Wohl schon. Schließlich ist diese Mischung aus Anspielungsreichtum und Antikapitalismus im schlimmsten Fall so unangebracht wie in den 60er-Jahren Kaisertreue, im besten befähigt sie die Kleinen, dem überwältigungsästhetischen Hightech-Rassismus und -Sexismus des „Königs der Löwen“ und seiner Nachfolger mit Hilfe der sinnlichen Vernunft des trotz allem liebenswerten, homosozial-anarchoiden, die mittlere und Vernunftgeneration überspringenden Opa-Enkel-Paktes etwas entgegenzusetzen. Um hier selbst einmal in dem Sinne ein bisschen kritisch theoretisch zu tünen, dass – wie Blaubär uns zeigt – die Intuition des Tünenden uns allemal zu den Wahrheiten verhilft, die die wahnsinnigen Wissenschaftler und Künstler in ihre Schranken verweisen.„Käpt’n Blaubär – Der Film“ nach Walter Moers. Regie: Hayo Freitag. Deutschland, 1999, 80 Minuten.

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