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Die erste eigene Wohnung ■ Von Wladimir Kaminer
Seit Ewigkeiten träumte ich von einer eigenen Wohnung. Doch erst mit der Auflösung der DDR ging mein Traum in Erfüllung. Im Sommer 1990 kamen wir, d. h. mein Freund Mischa und ich, nach Berlin und meldeten uns im Polizeipräsidium am Alexanderplatz als eine aus der Sowjetunion geflüchtete Volksminderheit jüdischer Nationalität an. Wir äußerten den Wunsch, in Deutschland zu bleiben, und wurden als Flüchtlinge anerkannt.
Zwei Wochen verbrachten wir in einem DRK-Heim in einer ehemaligen Kaserne der Roten Armee. Danach zogen wir nach Marzahn. Dort entstand gerade ein riesiges Ausländerheim – in drei Plattenbauten, die früher der Stasi als Sanatorium gedient hatten. Zunächst wurden hunderte von Vietnamesen, Afrikanern und russischen Juden einquartiert. Wir zwei und noch ein Kumpel aus Murmansk, Andrej, konnten uns eine möblierte Einzimmerwohnung im Erdgeschoss erkämpfen.
Das Leben im Heim boomte: Die Vietnamesen besprachen auf Vietnamesisch ihre Zukunftschancen – damals wussten sie noch nichts vom Zigarettenhandel. Die Afrikaner kochten den ganzen Tag Kuskus, abends sangen sie russische Volkslieder. Sie hatten erstaunlich gute Sprachkenntnisse, viele hatten in Moskau studiert. Die russischen Juden entdeckten das Bier im Sechserpack für 4,99, tauschten ihre Autos untereinander und bereiteten sich auf einen langen Winter vor. Viele beschwerten sich beim Aufsichtspersonal, dass ihre Nachbarn falsche Juden seien, dass sie Schweine äßen und samstags um die Wohnblöcke joggten, was man als echter Jude nie tun dürfte. So versuchten sie ihre Nachbarn loszuwerden und die zugeteilte Stasi-Wohnung für sich allein zu nutzen. Es herrschte regelrechter Platzkrieg.
Wir drei waren vom Leben im Heim nicht sonderlich begeistert und suchten nach einer Alternative. Der Prenzlauer Berg galt damals als Geheimtipp für alle Wohnung Suchenden. Dort war der Zauber der Wende noch nicht zu Ende. Die Einheimischen hauten in Scharen nach Westen ab. Ihre Wohnungen standen leer und waren voll mit allem möglichen Zeug. Gleichzeitig verschlug es eine wahre Gegenwelle aus dem Westen nach dort – Punks, Ausländer und Anhänger der Kirche der Heiligen Mutter, schräge Typen und Lebenskünstler aller Art . Sie besetzten die Wohnungen, schmissen die zurückgelassene Modelleisenbahn auf den Müll, rissen Tapeten ab und brachen Wände durch.
Wir drei liefen von einem Haus zum anderen und guckten durch die Fenster. Andrej wurde glücklicher Besitzer einer Zweizimmerwohnung in der Stargarder Straße, mit Innentoilette und Duschkabine. Mischa fand in der Greifenhagener Straße eine leere Wohnung, zwar ohne Klo und Dusche, aber dafür mit einer RFT-Musikanlage und großen Boxen, was seinen Interessen auch viel mehr entsprach. Ich zog in die Lychener Straße. Herr Palast, dessen Name noch am Türschild stand, hatte es sehr eilig gehabt. Nahezu alles hatte er zurückgelassen: saubere Bettwäsche, ein Thermometer am Fenster, einen kleinen Kühlschrank, sogar Zahnpasta lag noch in der Küche auf dem Tisch. Etwas zu spät möchte ich Herrn Palast für dies alles danken. Besonders dankbar bin ich ihm für den selbst gebauten Durchlauferhitzer, ein wahres Wunder der Technik.
Zwei Monate später fand die Geschichte der Besetzung des Prenzlauer Berges ein Ende. Die Kommunale Wohnungsverwaltung erwachte aus ihrer Ohnmacht und erklärte alle zu diesem Zeitpunkt in ihren Häusern Lebenden für die rechtlichen Mieter. Sie sollten ordentliche Mietverträge bekommen. Zum ersten Mal stand ich in einer 200-köpfigen Schlange, die ausschließlich aus Punks, Freaks, scheinheiligen Eingeborenen und wilden Ausländern bestand. Laut Mietvertrag musste ich 18,50 Mark für meine Wohnung zahlen. So ging mein Traum in Erfüllung: ein eigener Lebensraum – von 25 Quadratmetern.
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