: Der Schnäppchenjäger
Uwe Braun* ist nicht zynisch, ruchlos und berechnend. Uwe Braun ist Arzt. Da muss man mit den Budgets der Kassen umgehen können. Und da muss man diese umgehen können – gelegentlich auch mit Hilfe der Pharmaindustrie ■ Von Annette Rogalla
Er sieht sie jeden Tag. Manchmal 30, 40 an einem Vormittag. Zuckerkranke, Patienten mit Halsschmerzen, Entzündungen, Magengeschwüren. Auch Hypochonder sind darunter. Ängstliche und Simulanten.
Er will ihnen helfen. Dem Diabetiker tastet er die Füße ab. Dem Halskranken rät er zu einem Wickel. Dem Magenkranken schiebt er einen 70 Zentimeter langen Schlauch in den Schlund und spiegelt die Geschwüre.
Dr. med Uwe Braun*, Facharzt für innere Krankheiten, genießt großes Ansehen. Auf dem Weg zum Wartezimmer sind die Trophäen des Dankes ausgestellt: Porzellanfigürchen im Glaskasten, Trockenblumengestecke im Regal. An der Türklinke zum Ordinationszimmer baumelt ein selbst gehäkelter lilaweißer Kobold. Hinter der Tür – Uwe Braun und sein Flatline-Bildschirm, Verschreibungsblock und Quittungen.
Uwe Braun ist nicht zynisch, ruchlos und berechnend. Uwe Braun ist ein Buchhalter.
„Wenn nötig, bekommt jeder ein Rezept von mir. Ich kann doch niemandem ein teures Bluthochdruckmittel verweigern, nur weil das Arzneibudget nicht reicht. Doch ich werde ein Schnäppchenjäger. So gibt es 100 Tabletten mit dem Wirkstoff Captoril für 130,98 Mark, aber auch als Generikum für 36,60 Mark. Seit kurzem verordne ich nur noch die preiswerte Kopie. Ich habe aber auch eine Hand voll Patienten, die fordern das teure Präparat. Sie sagen: ,Vom billigen bekomme ich Allergie, und wenn Sie mir das teure nicht verschreiben, komme ich nicht wieder.‘ Da bleibe ich ruhig. Ich lass` mich nicht erpressen. Bislang haben doch alle nur gepokert. Zu einem anderen Arzt ist noch keiner abgewandert.“
Im zweiten Quartal behandelte Uwe Braun noch jeden Patienten wie einen kleinen König. Ein Eisenpräparat und hochdosiertes Vitamin B für Herrn Hachmann, der seine Leber jahrelang mit Alkohol tränkte, ein paar Glutamin-Dragees für Frau Kremer, die ewig Erschöpfte. Alle bekamen nur das Beste – auch Kasssenpatienten.
Die Quittungen dafür findet Uwe Braun auf seinem Schreibtisch. Die Abrechnungsstelle der Kassenärztlichen Vereinigung warnt: Sie liegen mit knapp 40.000 Mark über dem Ihnen zugeteilten Arzneimittelbudget, machen Sie sich auf einen Regress gefasst. Die Betriebskrankenkassen teilen mit, dass die von Braun verordneten Medikamente im Schnitt 45 Prozent teurer sind als jene, die seine Kollegen rezeptieren. Am Ende des achtseitigen Schreibens der kollegiale Rat: „Am einfachsten wäre es, wenn Sie sich ein überschaubarers Sortiment der Ihnen vertrauten Arzneimittel zusammenstellen, in dem auch die Kosten berücksichtigt sind.“
Braun faltet die Briefe achtlos zusammen, steckt sie zurück in die grauen Umschäge. „In Wahrheit habe ich Angst vor dem Regress. Ich verschrieb keine Salben mehr, kein Schnupfenmittel und auch sonst keinen Pippikram. Trotzdem liege ich weit über dem Budget. Ich weiß nicht, wie ich davon runterkommen soll. Es gibt sehr viele neue, innovative Medikamente, die ich verordnen kann. Ich muss ja nach den Regeln der Kunst behandeln, sonst mache ich mich strafbar. Ein Herzinfarktpatient ist nun einmal ein Hochpreispatient. Wenn ich dem nicht das neueste cholesterinsenkende Mittel für 125 Mark gebe, das er vielleicht noch von seinem Krankenhausaufenthalt kennt, läuft er mir weg.“ Uwe Braun sagt: Der Patient. Uwe Braun meint: Der Krankenschein. Die Angst, dass im nächsten Quartal ein Krankenschein fehlen könnte, ist stärker als die Sorge um das Arzneimittelbudget.
„Schwere Krankheiten wie Bluthochdruck kann man ja auch mit vergleichsweise preiswerten Mitteln behandeln. Es gibt ein Entwässerungpräparat. Das verursacht ziemlich starken Harndrang. Ich wäre ja bescheuert, das zu verordnen. Außerdem müsste der Patient zur Blutverdünnung noch Aspirin schlucken. Diese preiswerte Therapie kostet nur 25,50 Mark, sähe aber so aus: Morgens Zähneputzen, drei Pillen schlucken, bis 12 Uhr laufend pinkeln gehen. Das macht keiner mit. Deswegen verschreibe ich ein modernes Hochdruckmittel – 100 Tabletten für 201,65 Mark. Das Präparat ist teuer, aber einfach in der Anwendung. Da kann ich annehmen, dass der Patient bei der Stange bleibt.“
Uwe Braun lebt in der permanenten Ungewissheit. Vor sechs Jahren überwies die Kassenärztliche Vereinigung noch 21.000 Mark an Monatshonorar, ein Jahr später rutschte er auf einen Monatsdurchschnitt von 14.000 Mark, heute liegt er bei 19.000 Mark. Rechnet er die Honorare für Privatpatienten hinzu, kommt Uwe Braun auf Monatseinnahmen von 24.000 Mark. Zwei Helferinnen beschäftigt er fest, eine auf Abruf. Macht Kosten für: Gehälter, Steuer, Versicherung, Miete, Putzfrau, Altersvorsorge. Am Monatsende überweist er sich 5.000 Mark auf sein Privatkonto.
Als Uwe Braun anfing, betreute er 650 Patienten im Quartal, heute rechnet er rund 750 Krankenscheine ab. Anfangs hatte er eine normale Praxis, ohne Gerätepark. Heute sucht er die vergrößerte Leber nicht mehr mit der Hand, sondern mit Ultraschall. Das bringt ein paar Honorarpunkte mehr. Die technischen Untersuchungen sind super, weil sie ein bisschen Ausgleich geben für das viele Quatschen mit den Patienten. Man muss sich das Ungleichgewicht beim Honorar mal überlegen: Zehn AOK-Patienten mit Husten, Schnupfen, Heiserkeit bringen genau so viel Geld wie eine Darmspiegelung. Heute schicken viele Kollegen ihre Patienten zum Ultraschall oder Spiegeln zu mir. Am liebsten mache ich Darmspiegelungen. Die erfordern zwar viel Zeit, manchmal brauche ich bis zu einer Stunde dafür. Das ist eine harte Arbeit, wenn man nicht durch den Darm durchkommt. Man schwitzt, müht sich ab, aber es macht Spaß. Und es ist lukrativ. Fünf Darmspiegelungen und ich habe mein Geld raus für den Tag. Ab Mittags hätte ich frei.“
Uwe Braun ist nicht zynisch, ruchlos und berechnend. Er ist niemand, der die Patienten schröpft und ihnen Vitaminpulver und Stärkungskapseln privat verkauft. Uwe Braun nimmt lieber von denen, die gut zu ihm sind. Die Geld in ihn investieren und einen fairen Gegenwert dafür erwarten. Täglich tauchen die Mittelsleute der Pharmaindustrie auf. Sie wirken unauffällig und müssen nie lange warten. Wie die kurzhaarige Dreißigjährige mit Perle und Brilli im Ohr und der großen Handtasche neben dem Stuhl, die vorhin im Flur saß. Angekommen um acht nach zehn, sieben Minuten später wieder draußen. Sieben Packungen des Magenmittels Zantic hat sie Braun zugesteckt, zwei, sagt er, hätte er nehmen dürfen.
„Die Industrie versucht aber auch ganz persönliche Bindungen zum Arzt herzustellen. Ein verlängertes Wochenende in Lissabon oder Dubrovnik ist alle paar Monate drin, inklusive Luxushotel, Essen und Trinken. Oder mal mit der ganzen Familie ins Hotel Adlon zum Empfang gehen. Manchmal nehme ich auch Freunde mit. Da fragt doch keiner nach, mit wie vielen Personen man kommt.“
Geld oder Sachgeschenke: Uwe Braun kann es sich aussuchen.
„Ein Pharmareferent hat mir einen Bürostuhl geschenkt, der 1.200 Mark im Laden kostet. Dafür habe ich zehn Patienten eine bestimmte Antifett-Pille schmackhaft gemacht. Für einen anderen Pharmakonzern habe ich eine Studie erstellt. Ich habe fünf Patienten ein bestimmtes Hochdruckmittel verschrieben und nachher auf einem Formular drei Fragen zur Wirksamkeit beantwortet. Dafür gab es 1.000 Mark.“
Die kleinen Nebenverdienste nennt Braun „Geschäfte im semilegalen Raum“. Sie bringen ihm etwa 15.000 Mark im Jahr ein. Am liebsten jedoch sind Uwe Braun die Geschäfte, bei denen kein Bargeld fließt.
„Der günstigste Deal ist der, bei dem Apotheker, Pharmareferent und Arzt zusammenspielen. Der Pharmareferent holt zehn Packungen des Lipidsenkers Lipobay aus der Apotheke, Stückpreis 278,95 Mark. Statt eines Rezepts bekommt der Patient eine freiverkäufliche Schachtel. Er ist zufrieden, weil er die Rezeptgebühr spart. Ich sammle die Rezepte und gebe sie dem Pharmareferenten, der sie in die Apotheke trägt.“
Beim Kuhhandel mit den Lipobay-Rezepten gewinnen alle, sagt Braun. Der Apotheker ist sich sicher, dass er das teure Präparat zehnmal umsetzt und einen Gewinn von knapp einem Viertel des Verkaufspreises einstreicht. Der Pharmareferent beweist seiner Firma, dass er das Mittel gut am Markt platziert, und Uwe Braun sammelt Pluspunkte beim Pharmareferenten.
Auf die Frage, ob die Bayer AG verschreibungsfreudige Ärzte mit Geschenken bedenkt, antwortet das Unternehmen mit einer Presseerklärung zu einem bereits bekannt gewordenen Fall (siehe Kasten).
Nicht nur zu Bayer laufen die Kontakte der Ärzte wie geschmiert, sagt Uwe Braun. „Neulich hat mir ein anderer Firmenvertreter eine neue Beleuchtung für die Praxis versprochen. Außerdem hat er mir Hoffnungen auf eine siebentägige gastroendologische Fortbildung in den USA gemacht. Da kann ich der Creme de la Creme über die Schulter schauen. Mensch, das ist ungefähr so, als wenn man als kleiner Priester beim Papst hospitieren darf!“
Uwe Braun ist nicht zynisch, ruchlos und berechnend. Uwe Braun führt seine Praxis wie einen Gewerbebetrieb. Und als Geschäftsmann weiß er, was zu tun ist, wenn die Honorartöpfe der Kassenärztlichen Vereinigung ausgeschöpft sind.
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