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Putin jagt Soldaten in den Heldentod

■ Bei dem Versuch russischer Panzereinheiten, die tschetschenische Hauptstadt Grosny zu erobern, sind laut Augenzeugen mindestens 115 russische Soldaten getötet worden. Russisches Oberkommando bestreitet das

Moskau (taz) – Den Versuch Russlands, die tschetschenische Hauptstadt Grosny noch vor den Parlamentswahlen am kommenden Sonntag einzunehmen, haben wahrscheinlich mehrere hundert russische Soldaten mit ihrem Leben bezahlt. Wie aus gut informierten Kreisen in Moskau verlautete, hatten russische Einheiten bei der seit mehreren Tagen geplanten Aktion in der Nacht zu Donnerstag versucht, Grosny von sechs Seiten zu stürmen. Dabei lieferten sie sich mit rund 1.500 tschetschenischen Rebellen im Zentrum der tschetschenischen Hauptstadt schwere Gefechte.

Augenzeugen berichteten, sieben russische Panzer und mehrere Mannschaftstransporter seien von tschetschenischen Rebellen mit Granatwerfern beschossen worden. Die zu Dutzenden aus den brennenden Fahrzeugen flüchtenden Wehrdienstleistenden wurden von Maschinengewehrsalven einfach umgemäht.

Westliche Korrespondenten vor Ort zählten zwischen 100 und 115 russische Leichen, zum Teil durch schwere Verbrennungen entstellt, die auf dem Schlachtfeld zurückblieben. Nach tschetschenischen Angaben sollen sogar mehr als 300 russische Soldaten getötet worden sein. Der Sprecher der tschetschenischen Führung, Mowladi Udugow, sagte gestern, bei den Kämpfen am Mittwochabend habe es „300 bis 350 Tote auf russischer Seite“ gegeben.

Die Kolonne hatte sich vom Militärflughafen Chankaly im Osten Grosnys dem Zentrum genähert und wurde am Minutka-Platz, einem strategisch wichtigen Ort drei Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, von tschetschenischen Kommandos aufgehalten. Die russische Generalität bestreitet unterdessen den Vorfall. Wiederholt hatten die Militärs in den Vortagen darauf hingewiesen, dass ein Sturm auf Grosny mit Bodentruppen nicht vorgesehen sei. Aus plausiblem Grund: Der Versuch, die Stadt mit Panzern und Bodentruppen einzunehmen, hatte die russische Armee in der Silvesternacht im ersten Krieg 1994/95 Verluste gekostet, die in die tausende gingen. Der damalige Verteidigungsminister Pawel Gratschow relativierte die Neujahrsüberraschung mit dem Hinweis, „die Soldaten seien mit einem Lächeln auf den Lippen gestorben“. Der Pressesprecher des Geheimdienstes FSB, Alexander Sdanowitsch, dementierte gestern die Meldungen des fehlgeschlagenen Angriffes. Weder seien Truppen nach Grosny vorgerückt, noch hätte es irgendwelche Verluste gegeben. „Wenn die Journalisten brennende Panzer gesehen haben, dann waren das Panzer, die von der russischen Luftwaffe zerstört worden sind“, sagte er. Sdanowitsch bezeichnete die Angaben als „Desinformationen“, die von tschetschenischen Kommandeuren in die Welt gesetzt und von westlichen Korrespondenten bewusst weiterverbreitet würden. Sdanowitsch argwöhnte, westliche Quellen wollten damit den Ausgang der Wahlen beeinflussen und die Position des populären Premierministers Wladimir Putin unterminieren.

Der stellvertretende Generalstabschef und Falke Waleri Manilow hieb in die gleiche Kerbe: „Keine Kolonne ist auf dem Weg zum Minutka-Platz gewesen, und nichts dergleichen war vorgesehen“, meinte er gegenüber dem privaten russischen Fernsehsender NTV. Seit Mittwoch seien nur zwei russische Soldaten in Tschetschenien getötet worden. Auch Verteidigungsminister Igor Sergejew wollte gestern von den Ereignissen in Grosny nichts gehört haben.

Demgegenüber bestätigte die Militärkreisen nahe stehende nicht staatliche Nachrichtenagentur AVN den Vorfall und sprach von etwa 50 russischen Toten, bevor sie wenig später die Angaben wieder zurückzog.

Unterdessen traf der Vorsitzende der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), Knut Vollebæk, gestern in der von der russischen Armee kontrollierten nordtschetschenischen Ortschaft Snamenskoje ein. Er wiederholte seinen Aufruf zu einem Waffenstillstand, sagte jedoch, es sei unrealistisch, dass Russland ihm Vermittlungsgespräche erlaube.

Nach Einschätzung des russischen Außenministers Igor Iwanow wird der Militäreinsatz in Tschetschenien „sehr bald beendet sein“. Eine politische Lösung sei möglich, sobald die Kaukasusrepublik von „Terroristen und Banditen befreit“ sei, sagte Iwanow bei seiner Ankunft in Berlin, wo er an einem Treffen der G-8-Außenminister teilnehmen wollte.

Gleichzeitig lehnte Iwanow eine internationale Vermittlung in dem Krieg erneut ab. Eine Vermittlung aus dem Ausland sei nicht nötig. Russland habe selbst Kontakte zu verschiedenen tschetschenischen Gruppen. „Wenn jemand aber meint, durch Sanktionen den Konflikt in Tschetschenien beilegen zu können, so muss er das mit seinem Gewissen abmachen“, sagte Iwanow.

Die Aussicht, dass in Zentralrussland bald dutzende von Zinksärgen mit Soldatenleichen eintreffen werden, hindert Russlands Präsident Boris Jelzin nicht daran, mit optimistischen Jahresendgrüßen aufzuwarten. Er wünsche sich eine Welt ohne Krieg, Gewalt und Trennungslinien. In einer Reaktion auf Schreiben mehrerer ausländischer Botschafter sagte der Präsident gestern, die „Welt von morgen“ müsse multipolar sein und dürfe nicht auf dem Diktat eines einzigen Landes oder einer Gruppe von Ländern gründen. Stattdessen müsse sie auf der Zusammenarbeit aller Länder beruhen. In seinem Bemühen um eine „gerechtere Welt“ werde Russland „mehr und mehr“ unterstützt. Der jüngste sino-russische Gipfel sei dafür ein deutliches Beispiel gewesen.

Klaus-Helge Donath

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