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Vom Aufklärer zum Ketzer
Nach der „Töpfchen-These“ nun die „Macho-Kultur“. In der Sozialforschung ist er der Mann des Jahres: Christian Pfeiffer. Wo der schlacksige Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen 1999 öffentlich auftrat, herrschte Aufruhr, hagelte es Polemik, schnappten die Zuhörer erregt nach Luft – in Magdeburg, in Schwäbisch Gmünd, in Berlin.
Vom Aufklärer zum Ketzer – eine überraschende Karriere. Denn bis vor einem Jahr war der Hannoveraner nur ein kompetenter Professor. Stets darum bemüht, wissenschaftliche Erkenntnis aus dem Elfenbeinturm in die breite Öffentlichkeit zu tragen. Stets bereit, ordnungspolitischen Hardlinern das Geschäft zu verderben. Ruhig und gelassen, aber unermüdlich konfrontierte er innenpolitische Scharfmacher mit kriminologischen Tatsachen. Wenn sich der konservative Dreisatz – häufiger, länger und härter bestrafen – in der Vergangenheit von Leuten wie Manfred Kanther nicht umstandslos durchsetzen ließ, dann ist das vor allem auch ein Verdienst von Christian Pfeiffer, dem Aufklärer. Er ist es, der auf Alternativen zum Wegsperren hinweist, der dem Zeitgeist widersteht, und den Zusammenhang zwischen sozialer Spaltung der Gesellschaft und Kriminalitätsentwicklung belegt.
Nun wird der Aufklärer immer häufiger als Ketzer gebrandmarkt. Ein Schicksal, das dem Verkünder von unbequemen Wahrheiten seit Menschengedenken zugedacht ist. An den Pranger gestellt werden in Ostdeutschland nicht jene, die in der ehemaligen DDR eine Erziehungskultur der Intoleranz zu verantworten hatten und unfähig zur Selbstreflexion sind.
Der Angeklagte ist Pfeiffer, der zum Nachdenken über die Spätfolgen eines Systems anregt, das nicht nur auf dem Feld der Ökonomie, sondern auch in der Erziehung scheiterte. Pfeiffer wird zum Ketzer, weil er nicht nur sagt: „Die Verhältnisse sind schuld“ – und die Menschen aus der Verantwortung entlässt. Er appelliert an die Eigenverantwortlichkeit, denn Verhältnisse ohne handelnde Subjekte gibt es nicht.
Nun droht Pfeiffer neue Gegnerschaft. Seit Monaten schmort eine brisante Studie vor sich hin. Der Befund: Der Anstieg der Jugendgewalt in den Neunzigerjahren geht auf das Konto der Einwanderer aus Südeuropa, vor allem aus der Türkei. Ist das Ergebnis zu heikel für eine breite öffentliche Diskussion? Pfeiffer schwankt zwischen Optimismus und Pessimismus. Zu viele Menschen reagierten mit einer Schere im Kopf, klagt er. Offensichtlich gilt es in Deutschland immer noch als politisch unkorrekt, sich mit den Schattenseiten der Migration zu beschäftigen. Um so erfreulicher sind die Reaktionen in der Türkei. Hier stößt die Studie auf Interesse.
Ab Januar 2000 eruiert ein türkisch-deutsches Forschungsprojekt, ob sich die Männlichkeitsvorstellungen junger Türken in der Türkei und in Deutschland unterscheiden.
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