Staat zieht mehr Bafög ein, als er ausbezahlt

Von wegen Chancengleichheit! Anstatt Studierende zu fördern, macht der Staat mit Bafög Kasse: Er erhält 659 Millionen Mark von Rückzahlern – und zahlt nur 627 Millionen aus

Berlin (taz) – Studierende, die einen Bafög-Antrag stellen, haben mit Widrigkeiten zu kämpfen: „Oft kommt der Schrieb zurück, dann fehlt die Schulbescheinigung der kleineren Schwester oder der Lohnsteuerjahresausgleich des Vaters vom Vorvorjahr“, erklärt Claudia Luzaer, Sozialreferentin an der Freien Universität Berlin. Die Politologin berät im Schnitt 15 Studis am Tag, doch die wenigsten haben Aussicht auf eine staatliche Existenzsicherung.

„Viele kommen nicht über 200 Mark Fördersatz hinaus“, erläutert Asta-Referentin Luzaer. Die gehen dann lieber direkt arbeiten. Wenn sie beim Jobben über 630 Mark verdienen, wird das schmale Bafög auf ein Taschgeld gekürzt.

Die sozial-liberale Koalition unter Willy Brandt hob 1971 das Bafög aus der Taufe. Getreu dem Slogan „Bildung für alle“ sollte von da an Chancengleichheit in den Schulen und Unis herrschen. Auch die Arbeiterkids konnten jetzt durch staatliche Finanzhilfe das Wahre, Gute und Schöne erstreben. Doch das Bildungs-Eldorado hielt nur drei Jahre. Dann wurde ein Teil des Studiengelds nur noch als Darlehen vergeben. Weitere Einschränkungen verkleinerten den Kreis der EmpfängerInnen: Von 1972 bis 1982 sank die Gefördertenquote von 44,9 Prozent auf 30,3 Prozent.

Die „geistig-moralische Wende“ Kohls brachte ab 1982 den so genannten „Bafög-Kahlschlag“. Die CDU-Regierung schaffte die Förderung für SchülerInnen weitgehend ab; Studis erhielten keine müde Mark umsonst, sondern ein Volldarlehen. Die CDU-Politik traf insbesondere die Studiosi aus einkommenschwachen Familien. Ihr Anteil sank von 23 auf 14 Prozent (1982 bis 1994).

Auch die 1991 erneute Bafög-Novelle brachte keine Besserung. Seitdem werden die Studis wieder halb vom Staat gesponsort, die andere Hälfte müssen sie zurückzahlen. Der Haken: „Die Rückzahlung muss fünf Jahre nach Ende der Förderung, in der Regel nach acht Semestern, beginnen“, erklärt Luzaer. Manche Studis hätten zu diesem Zeitpunkt ihren Abschluss noch nicht, andere nur ein kleines Berufseinsteigersalär. Viele fürchten den Schuldenberg bei Berufsantritt und arbeiten lieber neben dem Studium. Zwei Drittel der HochschülerInnen tun das.

Verlierer der diversen Bafög-Novellierungen sind die Kinder derer, für die das Fördersystem eingeführt wurde: die Niedrigverdiener. Nach Angaben des Deutschen Studienwerks kommen 52 Prozent der 18-Jährigen aus „niedriger sozialen Herkunftsgruppe“, wie es im Soziologenjargon heißt. Gemeint sind Jugendliche, deren Eltern im Monat weniger als 2.940 Mark verdienen oder von der Sozialhilfe leben. Von 100 SchülerInnen dieser Gruppe besuchen nur 33 die gymnasiale Oberstufe. Aber 84 von 100 Kids der Haute-Finance schaffen es bis in die Oberstufe. Noch weiter klafft die soziale Lücke im Hochschulbereich. Von 73.000 Beamtenkids beginnen derzeit 41.000 ihre Karriere an der Hochschule. Von 204.000 Arbeiterkindern nehmen dagegen nur 2.800 ein Studium auf – 14 Prozent. Beim Nachwuchs der NiedriglöhnerInnen und SozialhilfeempfängerInnen ist die Quote noch geringer: Nur vier Prozent besuchen eine Uni, und vier weitere Prozent eine Fachhochschule

Derzeit ist die Gefördertenquote auf ihrem historischen Tiefstand – mit einer grotesken Folge: Der Staat verdient am Bafög. Die Bafög-RückzahlerInnen bringen jährlich 659 Millionen Mark in die Kasse. Aber nur 627 Millionen wird der Staat im Jahr 2000 an die aktuellen Bafög-EmpfängerInnen überweisen. Isabelle Siemes