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Moderner Danton

Bild eines Handlungsreisenden in Sachen Aufstand und faszinierende Kulturgeschichte: Madeleine Grawitz' „Bakunin“-Biografie  ■ Von Roberto Ohrt

Zur Geschichte der revolutionären Bewegungen gehören Zeichen und Signale, und manchmal findet man unter den Signalen auch Namen; von diesen ist wohl keiner so bekannt und so sehr auch nur eine Ahnung geblieben, wie der von Michael Bakunin. Er steht für Anarchismus, das weiss man, aber wer zum Beispiel für den Kommunismus Marx anführt, hätte gleich den Hinweis auf einige Bücher parat, das Jahr 1848 oder eine Nachgeschichte, die sich sogar bis zum großen Reich des roten Russland schreiben ließe.

Bakunin bleibt demgegenüber eine Leerstelle, etwas Verschwundenes. Er passt zu keinem Land oder irgendeiner Heimat; selbst die Begriffe seiner Ideen scheinen ohne klare Konturierung auszukommen, als gehörten sie mehr den Wünschen, und nicht anders ist es mit der Frage, wann genau er gelebt hat. War er nicht verantwortlich für die aktionistische Gewalt, die zu den Unruhen am Anfang unseres Jahrhunderts gehörte, oder für die Banküberfälle, die die Illegalität der sozialen Frage auf einem Boden der Tatsachen bekämpfte, auf dem sie angeblich nichts zu suchen hatte?

Lebte er nicht 1936 noch in Barcelona, als Staat, Kirche und Militär aus der Stadt vertrieben werden konnten... Das Wissen über Bakunin ist so unfassbar wie die Forderungen nach einer freien Gesellschaft des Lebens es immer noch sind, denn auch heute beschäftigt man sich wohl eher mit der Feststellung, die Menschen wären ohne den Staat nur schöne Schweine, als dass man sich vorstellen wollte, sie könnten erst ohne Herrschaft mehr sein als Tiere im Glanz der Scheiße, die wir Geld nennen.

Es hat schon ein, zwei Biografien über den russischen Anarchis ten gegeben, aber das neueste Werk von Madeleine Grawitz, 1990 in Paris erschienen und nun in deutscher Übersetzung bei Nautilus herausgebracht, ist ungewöhnlich detailreich und profitiert von Quellen, die erst kürzlich erschlossen wurden. Die Fülle der Informationen zeigt sich in dem Buch jedoch allzu oft als eine Behäbigkeit der Darstellung oder als eine falsche Greifbarkeit des Porträtierten, der mit einer Anhäufung von Details Gestalt annehmen muss.

Man könnte diesen Nachteil und die damit verbundene Mühe der Lektüre zum Teil als einen materiellen, also als den aus der Sprache selbst gemachten Schatten der realen Verhältnisse lesen, denn einerseits kommt es aufgrund des überfüllten Vordergrunds zu einigen ungewollten Überraschungen, und sie ähneln wahrscheinlich denen, die das Regime der feudalen Verhältnisse mit Bakunin erlebte. Andererseits wird in der Schwerfälligkeit auch etwas von der Schwäche des Anarchisten selbst sichtbar, jenes knapp zwei Meter langen, aufgeschwemmten, charismatischen und impulsiven Redners, der sich zeitlebens in eine unübersehbare Fülle von Briefkontakten, Initiativen, Geheimorganisationen, Texten, Bluffs und Illusionen verstrickt hat, sie mit seiner Erscheinung und einer ungewöhnlichen Mobilität ebenso beherrschte, wie er dann wieder von seiner Umgebung in Stücke gerissen wurde, aufgerieben zwischen Intrigen und Verleumdungen engster Verbündeter und geblendet von den Irrtümern seiner eigenen Naivität... und natürlich immer wieder beobachtet oder gejagt von Agenten der Staatsmacht.

Schon die Schilderung seiner Jugend in Russland verliert sich ins Zitieren aus langatmigen Briefen, die der schwärmerische Bakunin, Held einer verschuldeten Adelsfamilie, an seine geliebten Schwes-tern schrieb, um sie vor den Heiratsplänen des Vaters zu bewahren.

Dass der 1814 geborene, älteste Sohn nicht nur dem Familienoberhaupt, sondern bald auch dem Zaren und allen Ansprüchen des feudalen Herrschaftsapparats zähen Widerstand leisten wird, bis er schließlich seine Klasse verrät, um das anspruchslose Leben eines verlumpten Herumtreibers zu führen, kann man im Verlauf der Darstellung von Madeleine Grawitz nur verwundert zur Kenntnis nehmen. Das wäre nun nicht weiter tragisch, gerieten Anarchismus und Sehnsucht nach utopischer Freiheit dabei nicht insgesamt in Gefahr, abzurutschen ins bequeme Bild verantwortungsloser Weltfremdheit, wie sie sich allein ein adeliger Müßiggänger leisten könne.

Insbesondere die Beschreibung der Verführungen und Spannungen in den vielschichtigen intellektuellen Kreisen Moskaus, in denen der vom Land kommende junge Bakunin bald einen festen Platz hatte, bleibt zu flach. In dieser städtischen Gegenwelt des Zarismus entwickeln sich die entscheidenden Veränderungen der Lebensentwürfe, doch bei Grawitz spürt man wenig von der sozialen Brisanz dessen, was dort allmählich Realität und so außerordentlich gefährlich werden sollte für die alten Mächte Europas.

Anfang der 40er Jahre kehrt Bakunin Russland den Rücken; er zieht übrigens schon einen beträchtlichen Schweif von Schulden hinter sich her und in diesem ambivalenten Schatten hat er sich offenbar durchs ganze Leben gebracht, denn an keiner Stelle wird berichtet, dass er – von einigen Übersetzungen und Textproduktionen abgesehen – irgendwann einmal für Geld gearbeitet hätte. Schon in Moskau las er vor allem die deutschen Philosophen und nun – endlich selbst in den westeuropäischen Städten unterwegs – lernt er die unterschiedlichsten Vertreter jener sozialen Bewegung kennen, die zunächst noch eine Sache der Ideen ist.

Als er in seiner ersten Veröffentlichung dann „die Zerstörung eine schöpferische Kraft“ nennt und damit zwar den Linkshegelianismus nicht vom Kopf auf die Füße stellt, ihn aber aus dem Himmel einer stofflosen Weltgeistzukunft einigermaßen geräuschvoll herunterkrachen lässt, macht er sich auf einen Schlag einen Namen in ganz Europa. Für Bakunin blieben derartige Äußerungen nicht folgenlos; er war 1848 in Paris, Prag und Berlin, immer wenn dort gerade die Barrikaden gebaut wurden. Er kam durch Frankfurt, als in der Paulskirche getagt wurde, und winkte sofort ab: Die Deutschen wollen sich vereinigen, nur um ihre Nachbarn mit größerer Macht zu überfallen.

Bei der Niederschlagung des Aufstandes in Dresden im Mai 1849 wird er verhaftet und schließlich nach Russland ausgeliefert. Er verbringt elende Jahre im Kerker, und erst 1861 gelingt ihm aus sibirischer Verbannung die Flucht über Japan und die USA. Als er London wieder erreicht hat, stürzt er sich sofort in neue Aufstandspläne.

Seitdem ist er überall in Europa unterwegs, lebt zeitweise in Italien und dann hauptsächlich in der freien Schweiz, wo wichtige Versammlungen der „Ersten Internationalen Arbeiter Assoziation“ stattfinden, das Forum, das ihn wieder direkt mit Marx konfrontiert.

Schon am Ende der 40er Jahre hatten die beiden sich bekämpft. Gegenüber den panslavistischen Visionen, denen der Anarchist damals nachhing, hatte Marx sicherlich berechtigte Vorbehalte, doch er scheute sich auch nicht, im Theater der europäischen Geschichte den Deutschen eine Vorreiterrolle zuzuerkennen. Im Klartext: Zunächst müssten sie dem Osten ihre höhere Kultur aufzwingen; dann erst wäre dort die Basis für eine kommunistische Gesellschaft gelegt. Dagegen hatte Bakunin sofort geschaffen.

Anfang der 70er Jahre warnte er die „1.Internationale“ insbesondere vor ihrer mangelnden Kritik am Staat. Hierarchien und patriarchale Strukturen beherrschten die anarchistischen Organisierungsversuche genauso wie die der Kommunis ten, doch Bakunin führte das antiautoritäre Prinzip immer wieder in die Auseinandersetzung um die grundlegende programmatische Perspektive ein. In diesem Abschnitt ist seine Biographie zugleich eine detaillierte Geschichte der „1.Internationale“ und all der organisatorischen Anstrengungen, die das Entstehen der revolutionären Arbeiterbewegungen begleiteten. Bakunin setzte außerdem eher auf revolutionären Elan und Aktionen als auf eine analytisch abgesicherte Prognose und das Warten am geographisch richtigen Ort im gesellschaftlichen Unterbau. Und er brach immer sofort auf, wenn irgendwo ein Aufstand zu erwarten war, um sich – wie er dann sagte – dort in den Tod zu stürzen.

Im Sommer 1876 ging er schwer krank nach Bern zu einem Arzt, dem er zu Verstehen gab, dass „Du mich wieder auf die Beine stellst oder mir die Augen schließt“. Der Arzt verschrieb als erste Maßnahme einen geregelten Lebenswandel, woraufhin der Mann, dessen Gesundheit durch die Jahre im Gefängnis ruiniert worden war, erwiderte: „Gut! man soll von mir sagen: unordentlich gelebt, aber ordentlich gestorben.“

Madeleine Grawitz, Bakunin – Ein Leben für die Freiheit, Nautilus, Hamburg 1999, 592 Seiten, 61 s/w-Fotos, 68 Mark

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