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Auf dem Weihnachtsmarkt ■ Von Frank Schäfer
Wie die Engländer an der Bushaltestelle“, sagte meine kluge und weit gereiste Begleiterin, als wir auf die wahrhaft akkurat eingenordete Menschenschlange stießen und scheinbar endlos neben ihr her defilierten. Fast hätte ich mich auch angestellt. Hier gab es doch augenscheinlich etwas umsonst!? Meine Begleiterin indes war zu klug und zu weit gereist, zog mich einfach fort, und ich dankte es ihr bald darauf mit einem sanften Händedruck. Denn am vielfräßigen Kopf der Schlange gab es doch nur „Einen halben Meter Wurst im Brot“.
„Das ist viel“, sagte sie, und ich sagte gar nichts, drückte nur, wie gesagt, dankbar ihre Hand. Ein halber Meter Wurst im Brot also genügt, um die Welt zu disziplinieren. Wobei „im Brot“ insofern nicht ganz richtig ist, als mindestens ein viertel Meter Grilldarm aus beiden Enden des Baguettes hervorpimmelt – und hineingehängt wird in die gut einsehbaren Schluchten menschlicher Verdauung. Das bisschen Soigniertheit, dessen der deutsche Wurstesser fähig ist, hat sich offenbar schon beim Schlangestehen aufgebraucht. Nein, dann schon lieber Glühwein.
„Komm doch weg hier“, flehte sie nun, und ich gab ihr gerne nach. Wir ließen uns eine Weile treiben mit dem nach rechts abbiegenden Humanoidenstrom. Einfach so. Vorbei an der „Schreinerwerkstatt“, die Selbstgedrechseltes für das Kind ab vierzig feilbot, vorbei an der „Jumbowaffeltüte“ und auch noch vorbei an „Warmes aus Wolle“, dessen Verkäufer so ein breites Grinsemaul herzeigte, als hätte er sich die Stricknadel quer eingezogen. Am Karussel staute es sich wie jedes Jahr. Da muss man dann zuhören. Zwei elegante Kaschmirmäntel vor uns, so der Typ feister Kleinunternehmer oder Bundeskanzler, nutzten die Gelegenheit. „Eng wie inner Jungfrau hier“, schrie der eine den anderen an. Ja, und beifällig brandete auch schon Gelächter herüber. Aber der andere retournierte sogleich, schließlich stand seine Krämerehre auf dem Spiel: „Kannste wenigstens nich umfallen.“ Hei, wie neidlos koyotete da sein fideler Kollege in die kalte Winternacht.
Und diesmal musste sie auch gar nichts sagen. Ich kam von ganz alleine mit. Zu den Bilderbüchern. Dickbäuchige, freundlich lachende Nilpferde sah man da herumtollen, Pinguine im Frack, viele Elche auch. Hier ist es schön, dachten wir wohl beide, da drängelte sich ein anämisches Wesen mit ganz dunklen Augenringen zwischen uns. Sie trug einen Evergreen, einen Jeanszweiteiler, die Jacke mit obligatem Fellkragen, und hatte eine rote Weihnachtsmann-Mütze auf. Sie besah sich das Bilderbuchangebot, und ihre Augenringe wurden dunkler und dunkler.
„Habt ihr auch was über Trennung?“ – „Trennung?“ Wie soll ich jetzt den Gesichtsausdruck der hilflosen, aber natürlich auch ungelernten Buchhändlerin beschreiben? Inständig baten ihre Augen um Beistand, aber ich Feigling stellte mich lesend. „Ja, Scheidung“, versuchte sie es noch einmal. „Ich habe leider nur Weihnachtsgeschichten da“, murmelte die Verkäuferin verzweifelt. Was in gewisser Weise ja einleuchtete. Die Melancholia in Jeans nickte denn auch verständig und ging wortlos davon. Wir blickten ihr noch lange hinterher. Die wahre Trauer hat keine Worte.
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