: Der Mann mit dem Magnetoskop
Laufbild, Gemäldekatalog, Erzählung, Kinogeschichte und Musik. Oder das Filmemachen in der Bewegung des Denkens und der Geschichte: Jean-Luc Godards monumentale „Histoire(s) du Cinéma“ ist als TonBildTextBuch auf Deutsch erschienen ■ Von Alexander Horwath
„Die Erlebnisse unserer Sinne sind nämlich beinahe ebenso konservativ wie die Theaterdirektoren. Was auf den Blick und Klang verstanden werden soll, darf sich vom bereits bekannten nicht zu weit entfernen.“ (Robert Musil)
Immer aufs Neue die gleiche Schwierigkeit: Wie soll man von jener Redeweise reden, die der Bild- und Tonsteller Jean-Luc Godard seit fast schon fünfzig Jahren praktiziert? Darf man zum Beispiel in der Form des Weihnachtshymnus davon reden? Es ist ein Werk entsprungen, in einer Hülle hart; vom Alten und vom Jungen: vom Kino sprach es zart. Und hat ein Glück gebracht: Rechtzeitig zum Fest und zum 30jährigen Firmenjubiläum stellt das Münchner Schallplattenlabel ECM Godards achtteilige Videoarbeit „Histoire(s) du cinéma“ in einer außergewöhnlichen Form zur Verfügung: als Kassette aus fünf CDs (die die mehrschichtige Musik- und Stimmenspur der Bänder enthalten) und vier Bücher, in denen der gesprochene Text auf Deutsch, Französisch und Englisch abgedruckt ist. Dazu kommt ein längerer, kommentierender Essay des Filmkritikers Jonathan Rosenbaum samt Interviewpassagen von Godard sowie ein Bildteil mit ausgewählten Farb-Videostills aus der Serie.
Was Aura, Umfang und kulturellen Anspruch betrifft, behauptet solch ein Präsentationsformat seinen Platz ganz selbstbewusst zwischen der „Kritischen Gesamtausgabe“ kanonischer Schriftsteller und dem „catalogue raisonné“ der bildenden Künstler. Tatsächlich lassen sich nur wenige andere Laufbildwerke denken, die solch eine Behandlung mit Fug und Recht „verdienen“ würden. Die Unterschiede sind dennoch gewaltig: Die „Histoire(s) du cinéma“, produziert zwischen 1988 und 1998, sind – nicht nur im deutschsprachigen Raum, aber hier besonders – weit von der Kanonisierung entfernt. Sie bilden eine Marginalie im öffentlichen Filmgespräch, dienen der Kunstwelt bestenfalls zum koketten Seitensprung (zum Beispiel auf der documenta X), und auch als Feuilletonredakteursprüfungsfrage sind sie gewiss nicht vorgesehen. Doch selbst wenn sie auf dem Hauptstrom der Kultur segelten, ließen sie sich nicht leicht aufs Handliche einengen und stillstellen als vollständiges Werk. Sie existieren in diversen Bild-, Ton-, Textvarianten, aber (soviel ich weiß) gerade nicht als kompakte Video-Edition.
Godards eigene Arbeitsweise, in den „Histoire(s)“ und anderswo, steht ganz konträr zu Totalität und Komplettheit. So erscheint es nur folgerichtig, dass die werkähnlichen Ergebnisse seiner Arbeit an der Geschichte und den Geschichten des Kinos nie „geschlossen“ vertrieben und besessen werden können – außer im seltenen, flüchtigen Moment der Projektion (in dem die konstante sinnliche Überforderung ein „Festhalten“ ohnehin unmöglich macht).
Die „Histoire(s)“ sind immer alles zugleich: Laufbild, Fotografie, Gemäldekatalog, Pixelmutation, Musik, Geräusch, Filmtonfragment, Sprechstimme, Schrift-im-Bild, Literatursteinbruch, Essaytext. Sie sind Empfindung und Wissen, Information und Emotion, Theorie und Praxis des Kinos, Geschichtsschreibung und Geschichtenerzählung. Sie sind weniger und zugleich mehr als ein Gesamtkunstwerk, weil sie nie „gesamt“ und nie „nur“ Kunstwerk sein wollen, sondern ein Fluss, der das Ästhetische hineinreißt in die Bewegungen des Denkens und der Geschichte.
Polyphon, synchron, transparent
Mangels besserer Gleichnisse wird Godards Mehrschichtenmethode bei den Histoire(s) du cinéma oft über literarische „Verwandtschaften“ erklärt – mit dem Verweis auf höchstrangige Meta-literatur von Proust oder Joyce. Ich würde, ebenso hilflos, aber zur Ehre der deutschsprachigen Moderne und kakanischen Sprachkritik, hinzufügen wollen: Robert Musil – „Das Vorher und Nachher ist nicht zwingend, der Fortschritt nur intellektuell und räumlich. Der Inhalt breitet sich auf eine zeitlose Weise aus, es ist eigentlich immer alles auf ein Mal da.“ Auch Ulrich, Musils „Mann ohne Eigenschaften“, hat bereits eine Godard-Idee: dass Geschichte aus nicht zu Ende geschriebenen, unfertigen, plötzlich abgebrochenen Sätzen bestehe.
Umgekehrt greift Godard selbst, wenn er das Kino umkreist, gern zu Bildern aus der Literatur. Einmal hat er Baudelaire zum Hellseher des Kinos erklärt. Der schrieb, lange vor der Erfindung der Lumière-Maschine: „Wir wollen reisen ohne Dampf und Segel. Treibt, die Langeweile unserer Gefängnisse erhellend, über die ausgespannte Leinwand unseres Geistes, eure Erinnerungen mit ihrem Fensterhorizont.“ Das ist vielleicht das Kino, aber trifft es auch Godards eigene Filmarbeit? Ist die nicht besser vorstellbar, wenn man noch ferner zurückschaut, zum Beispiel auf die barocke Polyphonie mit ihren transparenten Einzelgliedern, die erst im „Gespräch“ miteinander und bezogen auf ein Äußeres Sinn machen? Hier, bei Godard, ist dies Äußere die Geschichte; dort, bei Bach, war es der Gott im Himmel.
Nikolaus Harnoncourts Begriff der Barockmusik als „Klangrede“ verweist auch auf die Bedeutung der Artikulation: Artikulieren heißt gliedern, etwas Punkt für Punkt vortragen, die einzelnen Teile, insbesondere die Laute und Silben, deutlich hervortreten lassen. Zusätzlich solle – in jeglicher Musik – das „Geschichtliche des Tons“, seine materielle Herkunft (das Geräusch des Bogens auf der Saite), mitgespielt und -gehört werden. Bei einem gut artikulierten Barockstück „können wir auf den Untergrund, die Zeichnung, den Plan hören, in einer anderen Schicht werden wir Dissonanzbetonungen finden, in der nächsten eine Stimme, die aus ihrer Diktion heraus weich gebunden wird, und eine andere, die streng und hart artikuliert wird; dies alles synchron, zur selben Zeit. Der Hörer kann gar nicht zugleich alles erfassen, was das Stück enthält, sondern er wandert durch die verschiedenen Schichten des Stücks und hört immer wieder anderes. [...] Es fällt uns sehr schwer, das Gleichzeitige von Verschiedenem zu begreifen und zu akzeptieren; wir wollen Ordnung der einfachsten Art haben. Im 18. Jahrhundert aber wollte man die Fülle, das Übermaß, wo immer man hinhört, bekommt man eine Information, nichts ist gleichgeschaltet. Man schaut die Dinge von allen Seiten, zugleich!“
Hawks, Hayworth, Lang, BB
Die neue ECM-Edition erschließt Godards Sinnlichkeit und Denkweise primär über den Ton. Es ist ratsam, zuerst den deutschen Text zu lesen und dann – mit einigen Grundbegriffen im Kopf – die übervolle (und von François Musy auf höchste „Artikulation“ gemischte) Klangrede zu hören, die neben der Musik von Bartok & Bach, Otis Redding & John Coltrane usw., den Stimmen von Paul Celan & Godard, Ezra Pound & Hitchcock usw., den Geräuschen des Kinos und der Natur, auch (nicht übersetzte) Filmdialoge enthält. Für die visuelle Ebene bietet sich die bei Gallimard in Paris erschienene Bilderbuchausgabe an: kein Ton, nur der französische Text (mit ein paar Auslassungen), aber der volle Strom der Videogramme. In jedem Fall entgleitet mir auf schöne Art die „eigentliche“ Substanz des Werks; nein: Das ständige Entgleiten, die immerwährende Lücke ist Teil seiner Substanz. Das kommt davon, dass Gott der Geschichte Platz gemacht hat.
Und wovon handeln die „Histoire (s)“ außerdem? „Wir haben nichts mehr. Sie hatten den Spanischen Bürgerkrieg; wir haben nicht einmal unseren eigenen Krieg. Wir haben nichts außer uns selbst, unser Gesicht und unsere Stimme. Aber vielleicht ist es das, was wichtig ist: den Klang der eigenen Stimme anzuerkennen.“ (Godard, „Le petit soldat“, 1960) Vom Krieg zur eigenen Stimme und wieder zurück.
Vom Wortspiel zum „Bildspiel“, vom Spielfilm zum Kriegsspiel. Zum Beispiel handeln die „Histoire(s)“ von dem Riss, der durch das 20. Jahrhundert und durch das Kino geht. Vom Schuldigwerden des Kinos als Spektakel und davon, wie das Neue Kino der Italiener oder „das arme Kino der Wochenschauen das Blut und die Tränen von jedem Verdacht reinwaschen soll – wie man das Trottoir reinigt, wenn alles zu spät ist und die Armee schon in die Menge geschossen hat“.
Und sie handeln von allen Filmgeschichten, die es geben könnte / die es geben wird / die es gegeben hat / die niemals gemacht worden sind. In den Traumfabriken: in Hollywood und im Kommunismus. Lenin, Howard Hughes und Irving Thalberg, das Totenbett der Last Tycoons, und die Filme, zum Beispiel von Stroheim, die ihretwegen niemals gemacht worden sind. Kriegsflugzeuge und die Schrift KINO PRAVDA, dazu Schuberts „Unvollendete“. Das Stakkato von Godards elektrischer Schreibmaschine und das Aktionsbild von Hughes/Hawks, „Scarface“ mit dem Maschinengewehr. Die Flugzeuge von Howard Hughes; ein Lied von Leonard Cohen, Rita Hayworth in „Only Angels Have Wings“.
Und schon sind wir, wie so oft in Godards Filmen, bei Liebe Arbeit Kino. Ein Cukor-Musical, „Les Girls“. Ein Bild von Godard und Anna Karina, seiner Frau und Hauptdarstellerin in den 60er Jahren; und ein Zeichentrickfilm von Tex Avery: Big Bad Wolfie und das strippende Rotkäppchen. Die Stimmen sagen: „Alle Sexgeschichten / Gefährliche Liebschaften / Man spielt nicht mit der Liebe / Adieu, ma jolie (das war Godards Stimme) / Der Grund der Dinge: der Hintern.“ Weitere Bilder aus Filmen, die nie fertiggedreht wurden, Welles‘ „Don Quichotte“, Renoirs „Tosca“ und Ophüls‘, „Schule der Frauen“, dazu zwei Gemälde von Manet und Degas.
Jetzt kommt eine Sexkriegsgeschichte: Max Ophüls, Louis Jouvet und Madeleine Ozeray, 1940 in Genf, ein Filmset-Dreiecksverhältnis mitten im Weltkrieg. Der Deutsche „Ophüls, ihm fällt der Hintern von Madeleine Ozeray ins Auge, während die deutsche Wehrmacht die französische Armee von hinten nimmt“, und der Franzose Louis Jouvet, der Exfreund, der Impressario, gibt sich geschlagen.
Deutsche Soldaten durchqueren einen französischen Fluss, Fritz Langs Siegfried reitet im Nebel, Monets Gemälde zeigt einen französischen Fluss. Das Lied von Lili Marleen, ein Augenblick aus Langs Exilfilm „Manhunt“ – das Attentat auf Hitler (auf dessen Darsteller). Echthitler grüßt in die Menge. Der Krieg ist da: Fiktion gegen Wirklichkeit. Ein und derselbe weiße Stoff: die Kinoleinwand und das Leichentuch.
Ich, toi – Histoire,Histoire(s)
Ein Vierteljahrhundert nach „Le Mépris“ führt Godard mit den „Histoire(s)“ seinen „Nachruf“ aufs Kino fort. Ein falsches Bazin-Zitat und ein schönes Wortspiel kehren wieder: „Pauvre BB“ trägt seine/ihre Lügen auf den Markt – Bertolt und Brischitt B., Januskopf, Medusenhaupt, Dialektik des Kinos. Nur die Traurigkeit ist noch viel größer geworden in der Zwischenzeit. Godards Filmdenken in den 80er und frühen 90er Jahren war stark vom regen Austausch mit dem Filmkritiker Serge Daney und dem Philosophen Gilles Deleuze bestimmt (und vice versa). Im Lauf der Arbeit an den „Histoire(s)“ sind die beiden gestorben. Vielleicht verstärkt dies noch den Eindruck, dass Kino, Autorenschaft und Godard-Ich hier hauptsächlich in Form einer „Danach-Sicht“ betrachtet werden. Das Ende der letzten Episode balanciert zwischen Sentiment und Todessehnsucht. Eine alte englische Schauspielerstimme liest ein Gedicht, „limbs that we left in the house of Circe; unwept, unwrapped in sepulchre“, und Godard spricht von der Grenze zwischen Leben und Traum.
Als Rückschau aufs Leben war auch der Film JLG/JLG (1994) konzipiert, an dessen Schwarzfilmschluss mit Godards Stimme ich mich intensiv und vielleicht falsch erinnere. Ich kann kaum Französisch, aber die englischen Untertitel lauteten ungefähr so: „Ein Mensch, nichts als ein Mensch. Nicht größer als die anderen. Aber kein anderer ist größer als er.“ Nun merke ich, dass diese Untertitel vielleicht auf angloamerikanisch-demokratischem Wunschdenken beruhen. Die deutschen Titel in der Fassung von arte gehen so: „...ein Mensch. Der keinem gleichkommt. Und keiner kommt ihm gleich.“ In der ersten Version geht Er, der spricht, auf Augenhöhe mit den anderen in die menschliche Gemeinschaft ein. Im zweiten Fall stehen Er und jeder für sich, abseits vom anderen. Ich stelle mir hoffnungsfroh vor, dass im französischen Original beide Optionen enthalten sind.
Der „Tod des Subjekts“ in der jüngeren Philosophie ist von manchen Cinephilen mit dem Sterben des Kinos verknüpft worden. Aber vielleicht ist das Subjekt noch am Leben? Solange jemand Ich sagt wie Godard in seinen letzten Filmen und aus dem Wort Histoire das andere Wort, toi, herauslöst, solange dürfen wir auch an ein Kino glauben, das den Einzelnen mit der Welt verbindet.
Jean-Luc Godard,JLG, jlg
„Kino“, das meint hier bereits mehr als Film. Denn wie die Laufbildindustrie hat auch Godard schon früh neue Maschinen gefunden und gelernt, mit ihnen eigenständig umzugehen. Die Histoire(s) sind der bislang umfangreichste Versuch, das digital erweiterte Videogerät für die freie Essayform zu nutzen: „Die einen denken, sagt man, die anderen handeln. Aber die wahre Bestimmung des Menschen ist es, mit seinen Händen zu denken. Ich werde nicht schlecht über unsere Werkzeuge reden, aber ich möchte sie gebrauchen können, wenn es stimmt, dass im allgemeinen die Gefahr nicht in unseren Werkzeugen, sondern in der Schwäche unserer Hände steckt ...“
Dank der Mutationsmöglichkeiten am digitalen Arbeitsplatz kann Godard nun effektiv „mit den Händen“ denken, und besser als je zuvor auch mit den Ohren. Im Interview mit Rosenbaum sagt er: „Video ist näher bei der Malerei oder Musik als der Film. Man arbeitet mit den Händen wie ein Musiker mit seinem Instrument, man spielt mit dem Gerät.“ Noch einmal also – Bild- und Klangrede: Artikulation, Gliederung, Auflösung. „Um die Lösung eines Problems zu finden, egal ob es sich um ein chemisches oder politisches Problem handelt, muss man es auflösen: Wasserstoff auflösen, das Parlament auflösen. Deshalb werden wir nun Bilder und Töne auflösen.“ (Godard, „Le gai savoir“, 1968)
Im Französischen wird für den Videorecorder das schöne Wort „magnétoscope“ verwendet. So wie Godard in seiner fröhlich-melancholischen Wissenschaft mit diesem Gerät umgeht (und das Gerät mit ihm), könnte man sagen: Das „Kamerabewusstsein“ von Vertov bis Hitchcock weicht einem „Magnetoskopbewusstsein“ beim späten Godard. Dieses Bewusstsein „erfindet“ nicht, es nimmt durch Anziehung andere Dinge, das Bestehende auf und transformiert es. Das Sehen und Hören wird, als Denken, magnetisch und zu einer Einladung an alle, ebenso frei zu verfahren. Statt eines „Copyright“ steht am Anfang der „Histoire(s)“: „non© 1988 jlg films“.
In „Nouvelle Vague“ heißt es: „Die Vergangenheit und die Gegenwart, die sie über sich spürten, waren Wellen ein und desselben Ozeans.“ JLG ist der freundliche Pirat auf diesem Ozean. Hören Sie ihn auf dem Magnetoskop über die Weltmeere jagen: Jede neue Welle spült ihm neue Geräusche, Trümmer, Schiffbrüchige heran. Er macht Geschichte daraus und Geschichten. Abenteuer.
Jean-Luc Godard: „Histoire(s) du Cinéma“. Aus dem Französischen von Hanns Zischler. ECM Records, München 1999, 230 DM.
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