: „Es ist wichtig, dass dies jetzt alles präsent ist“
Nur hier und schon eine Woche vorher: Die schönsten Stellen aus Gerhard Schröders Neujahrsansprache (im Anschluss: Silvesterstadl)
Liebe Bürgerinnen und Bürger,
ein bewegtes Jahr liegt hinter uns. Ein Jahr des Wechsels und des Wandels. Das begann nicht erst mit Holzmann, sondern bereits mit dem Umzug der Regierung von Bonn nach Berlin. Viele verbanden damit den symbolischen Übergang von der Bonner zur Berliner Republik. Es ist aber nicht beim symbolischen Wechsel geblieben. Deutschland hat in den vergangenen Monaten eine neue Epoche gestaltet. (...)
Ich sage dies bewusst hier, an einem Ort, der nicht nur in seiner Architektur zeigt, wie Neues in souveräner Achtung des Alten entstehen kann. Die Bücher hinter mir im Regal zum Beispiel sind auch neu. Meine Frau hat sie ausgesucht. Wenn Sie genau hinsehen, werden Sie Oskar Lafontaines Buch immer noch nicht entdecken. Das werde ich auch im Jahr 2000 nicht lesen. Ich besitze aber einen Bildband über die Gruppe The Scorpions. Die machen ehrliche Rockmusik, und sie sind ungefähr in meinem Alter.
Meine Generation war auch die erste ohne eigene unmittelbare Kriegserfahrungen. Das entlässt uns nicht nur aus der Verantwortung unserer Geschichte, es erlaubt uns auch einen anderen Blick auf die Gegenwart. Unser Land zum dritten Mal in diesem Jahrhundert in einen Krieg zu führen war daher eine große Herausforderung.
Ich denke aber, wir haben unsere Sache schon dieses Mal sehr gut gemacht. Und mit „wir“ meine ich nicht nur unsere Bundeswehrsoldaten. Wir, das sind alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, die zur neuen Mitte unserer Gesellschaft zählen, die ein Bedürfnis nach Neuorientierung haben. Für diese neue Mitte ist eine aktive Politik außerhalb unserer Landesgrenzen eine Frage der gesellschaftlichen Verantwortung geworden. Ich gebe zu, dass es mich überrascht hat, wie schnell die Menschen diese Phrasen geschluckt haben. Aber auch das gehört zur Berliner Republik. (...)
Auch die christdemokratischen Spendenaffären der letzten Wochen eröffnen eine Zukunftsperspektive. Statt blühender Landschaften ist politischer Flurschaden entstanden. Die Menschen sind erfreulich empört.
Wir müssen die Zukunft unseres Landes gestalten. Diese Aufgabe verbinde ich mit dem Spendenskandal der Regierung Kohl. Ich habe nichts davon gehalten, wie mit Glogo oder Johannes Rau umgesprungen wurde. Hier die kleinkrämerische Untersuchung einer geselligen Veranstaltung, dort das würdelose Sezieren einer Geburtstagsfeier. Auch Politiker sind nur Menschen. Wenn allerdings vor meinem Amtsantritt Akten vernichtet und Daten gelöscht wurden, dann denke ich: Es ist wichtig, dass dies alles jetzt präsent ist.
1999 war aber auch ein trauriges Jahr für uns Deutsche. Natürlich habe ich Holzmann gerettet, aber es gab weitere Probleme. Die Türkei, das Heimatland vieler Bürgerinnen und Bürger ausländischer Herkunft, wurde von verheerenden Erdbeben heimgesucht. Manche Gegenden sind so sehr verwüstet, dass der deutsche Staat straffällig gewordene ausländische Jugendliche nicht dorthin abschieben kann. Die Bundesregierung wird jedoch eine Lösung finden. Das zeigt sich bereits daran, dass wir der Türkei selbstverständlich weitere Panzer zukommen lassen werden. Für beide Länder ist der Leopard eine Chance auf die Zukunft.
Im zweiten Jahr der Berliner Republik steht unser Land vor vielfältigen Aufgaben. Die Grenze zu den osteuropäischen Staaten ist nicht weit. Es ist zwar keine politische Grenze mehr, wohl aber eine dramatische Wohlstandsgrenze. Man spürt es nicht nur auf den Baustellen mit all den osteuropäischen Billigarbeitskräften, auch die Probleme mit der Kriminalität will ich hier gern erwähnen.
Aber genau diese Probleme zeigen unsere Ziele: Gemeinsam mit meinem Parteifreund Otto Schily und den europäischen Nachbarn werden wir im neuen Jahr noch intensiver dafür sorgen, dass uns das Pack vom Leib bleibt.
Vor uns liegt kein leichtes Jahr. Das Jahr des Wechsels und des Wandels wird abgelöst durch das Jahr der Herausforderungen. Viele von Ihnen werden sich auf dem Arbeitsmarkt neu orientieren. Die Älteren unter Ihnen werden innovative Möglichkeiten erproben, die finanziellen Belastungen des Ruhestandes zu bewältigen. Die Jungen werden sich Chancen erkämpfen. Begabung, Leistung und Kreativität werden für uns alle eine große Rolle spielen.
Als Bundeskanzler weiß ich, wie viel es noch zu tun gibt, sozial, ökonomisch und menschlich. Ich verspreche Ihnen, im Jahr 2000 endgültig alle sozialdemokratischen Ideale über Bord zu werfen, das ist eine Aufgabe, die ich anpacken werde. Ich wünsche Ihnen allen ein glückliches Jahr 2000.Carola Rönneburg
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen