Heiliger Krieg für Kaschmir

Die Entführer des indischen Passagierflugzeugs gehören vermutlich zum kaschmirischen Widerstand. Dessen Kämpfern ist mittlerweile fast jedes Mittel recht ■ Von Bernard Imhasly

Delhi (taz) – Wer steckt hinter der Entführung des indischen Linienmaschine nach Afghanistan? Es ist nahe liegend, die Urheber im Umfeld des kaschmirischen Widerstands zu suchen. Seit zehn Jahren kämpfen eine Reihe von Gruppierungen im nordindischen Himalayastaat für einen neuen Status von Kaschmir. Die Forderungen reichen von größerer Autonomie innerhalb Indiens über einen Anschluss an das benachbarte Pakistan bis zur Gründung eines unabhängigen Staats. Während die Unabhängigkeitskämpfer in den ersten Jahren die vorderste Front bildeten, wurden sie im Lauf der Jahre immer mehr durch islamistische Gruppierungen verdrängt, für die der Kampf um Kaschmir zur heiligen Pflicht der „Umma“ wurde, der gesamten islamischen Weltgemeinschaft. Die operationelle Führung dieser Gruppen ging in die Hände von Kämpfern unterschiedlicher Nationalitäten über, die ihr Training in Afghanistan erhielten und ihre Instruktionen von Führungspersonen in Pakistan.

Die „Harkat al-Ansar“ ist eine dieser Organisationen und Maulana Masud Azhar – der Mann, den die Flugzeugentführer nun freipressen wollen – war einer ihrer ihrer Führer, als er 1994 von indischen Truppen verhaftet wurde. Die Harkat leitete als eine der ersten Organisationen im Bürgerkrieg in Kaschmir eine neue gewalttätige Phase ein. Sie betrachtet nicht nur Staatsorgane als legitime Angriffsziele, sondern auch Zivilisten, besonders Nicht-Muslime. So werden auch die Entführer von fünf westlichen Touristen, unter ihnen der Deutsche Dirk Hasert, in Kreisen um die Harket vermutet. Zwar bestreitet die Organisation jegliche Verbindung zu der Verschleppung, jedoch wollten die Entführer ihre Geiseln gegen inhaftierte Anhänger eben der Harket austauschen.

Auch innerhalb der kaschmirischen Untergrunds wurden die Methoden und Ziele der Harkat – die Errichtung eines islamischen Staats inerhalb von Pakistan – heftig kritisiert. Angesichts der offenen logistischen und finanziellen Bevorzugung dieser Gruppen durch den pakistanischen Geheimdienst ISI zu Ungunsten der eigentlichen Unabhängigkeitsbewegungen blieb die Harkat al-Ansar eine der wirksamsten Widerstandsgruppen in Kaschmir. Erst als sie 1997 vom US-Außenministerium auf dessen Liste von Terrororganisationen gesetzt wurde, wurde es für den amerikanischen Bündnispartner Pakistan schwieriger, die Harkat offen zu unterstützen. Man nimmt an, dass die operationelle Kontrolle daraufhin nach Afghanistan verlegt wurde.

Auch in Kaschmir selbst ist es für die militanten Organisationen in den letzten Jahren immer schwieriger geworden. Der indischen Armee ist es mit einer massiven Verstärkung seiner Verbände gelungen, die Untergrundbewegung einzuschnüren und weitgehend wirkungslos zu machen. Dies mag einer der Gründe sein, warum sich Organisationen gezwungen fühlen, zum Mittel des Terrors außerhalb ihres eigentlichen Operationsgebiets zu greifen, beispielsweise zu Flugzeugentführungen.

Die indische Regierung steht nun vor dem Dilemma zwischen kurzfristigen Gewinnen und langfristigen Risiken. Einerseits muss sie ihr Bestes tun, um dieentführten Insassen zu retten, andererseits fürchtet sie, durch Nachgeben Nachahmer zu ermuntern. Indien genießt bei seinen Bürgern den Ruf eines „weichen Staats“, der gegenüber Gewaltdrohungen mit Kompromissbereitschaft reagiert. Ein Beispiel war der Fall von Rubayya Saeed, der Tochter eines kaschmirischen Politikers, die 1989 entführt worden war. Die Regierung hatte damals die Forderungen der Entführer erfüllt, um das Leben der jungen Ärztin zu retten. Die freigelassenen Untergrundkämpfer wurden in der kaschmirischen Hauptstadt Srinagar wie Helden empfangen. Der Triumphzug wurde zum Anstoß des Guerillakriegs, der innerhalb von zehn Jahren über 20.000 Opfer gefordert hat.

Die neue indische Regierung der BJP um Premierminister A. B. Vajpayee hat daher gegenüber den Flugzeugentführern klargemacht, dass sie „diesem Terrorakt nicht nachgeben wird“.