: Wie in einem Lotteriespiel
Mit der „MS Osnabrück“ gelangte er vor anderthalb Jahren als blinder Passagier von der Elfenbeinküste nach Hamburg. Mit der „MS Münster“ sollte er wieder abgeschoben werden. Heute ist der Liberianer Prince Jackson siebzehn Jahre alt und noch immer ohne Perspektive. Ein Leben zwischen Wohnheim, Schule und Ausländerbehörde Von Elke Spanner
Schweigend hört Prince Jackson mit, als zwei Sitznachbarn im Bus über Lichterketten in Wohnzimmerfenstern spotten. Sie belustigen sich über Deutsche, die in der Weihnachtszeit all die Gemütlichkeit nachholen wollen, für die sie den Rest des Jahres keine Muße haben. Die beiden blicken zu Jackson rüber, gewillt, sich im Hohn zu verbünden. „In Afrika machen wir es genauso“, sagt er schlicht.
Seine Mom, erzählt Jackson später, hat am 24. Dezember immer einen künstlichen Weihnachtsbaum aufgestellt und geschmückt. Geschenke gab es, und spätabends gingen alle zusammen in die Kirche. Jackson spricht über die Vergangenheit, wenn er von seiner Familie erzählt. Es ist das erste Mal, dass er seine „Mom“ erwähnt. Ihn nach ihr zu fragen, hat sich lange kaum jemand getraut. Im Alter von fünfzehn Jahren ist er im April 1998 alleine von Westafrika nach Europa geflohen. In Abidjian an der Elfenbeinküste ist er heimlich auf das Frachtschiff „MS Osnabrück“ geklettert, von dem er zwei Wochen später im Hamburger Hafen halb erfroren und halb verhungert mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren wurde. Jackson dachte damals, er sei in England angekommen. Seine Familie, glaubt er, hält ihn für tot.
Die Unterkunft für jugendliche Flüchtlinge, in der Jackson wohnt, liegt im Hamburger Außenbezirk Harburg südlich der Elbe, „langweilig ist es hier“. Die Baseballkappe behält er in seinem Zimmer auf. Ordentlich hängt er seine Jacke über den Schreibtischstuhl, beige Daunen, Übergröße natürlich. Eine Brille mag der Teenager nicht tragen, da kneift er lieber die Augen zusammen, wenn er jemanden auf Entfernung erkennen will. Wie viele Jungs in seinem Alter hat er die CD-Sammlung als Blickfang in seinem Zimmer aufgestellt: HipHop und Reggae. Im Fenster, versteckt hinter lila Vorhängen, hängt ein gelber Plüschteddy.
In Liberia, wo er mit seiner Mutter und drei Geschwistern aufgewachsen ist, herrschte Bürgerkrieg. Als eines Tages sein Heimatdorf Greenville bombardiert wurde, floh er mit einem Bus „irgendwohin“. An der Elfenbeinküste lebte er mehrere Monate oder Jahre auf der Straße, er weiß es nicht genau. Sich dort zu behaupten, fiel dem Jungen schwer, eine Narbe am Handgelenk zeugt vom dortigen Umgangston.
Zu seiner Familie hat er seitdem keinen Kontakt mehr, „wie denn, im Krieg?“ Über Jahre wusste er auch nicht, ob seine Mutter noch lebt. Erst vor kurzem hörte er von einem früheren Bekannten, der Jacksons Mutter irgendwo erkannt haben will. Ein jüngerer Bruder ist der Einzige, mit dem er sprach, seit er in Hamburg ist. Ein Freund hat den Bruder ausfindig gemacht, er lebt an der Elfenbeinküste. Einmal haben sie miteinander telefoniert, der Bruder, der auf der Straße lebt, durfte das Telefon eines Bekannten benutzen. Miteinander sprechen konnten die Geschwister kaum. „Erst hat er mir nicht geglaubt, dass ich es bin, er glaubte, ich sei tot.“ Dann hat sein Bruder geweint und er auch. Oft hat Jackson seither versucht, seinen Bruder erneut anzurufen. Nie ging jemand ans Telefon. Seine Betreuerin in der Unterkunft, sein Vormund, alle haben versucht, über die Nummer eine Verbindung herzustellen. Geklappt hat es nicht.
Jackson ist ein gewissenhafter Gastgeber. Er kocht Tee, bietet Zucker und Milch dazu an. Während er von seiner Familie erzählt, rührt er noch in der Teetasse herum, als der Zucker längst aufgelöst ist. Jetzt, wo der Name „Mom“ einmal gefallen ist, redet Jackson unablässig von ihr. Er sehnt er sich nach dem Kontakt. Aber er hat auch Angst davor. Denn er ist in Europa, in ihren Augen hat er „es geschafft“. Und das verpflichtet. „Wenn seine Mutter erfährt, dass Jackson in Deutschland ist, wird er ihr Geld schicken müssen“, erklärt sein Vormund Reimer Dohrn.
In Hamburg besucht Jackson eine Gewerbeschule, in der er Deutsch lernt und die Bearbeitung von Holz. Es ist seine dritte Schule. Zu den beiden davor hat er sich hingequält – mal ja, mal nicht. „Er hat das Gefühl und die Gewissheit, dass es ein Lotteriespiel ist, wie lange er in Deutschland bleiben kann“, sagt Dohrn. „Die Unsicherheit drückt auf die Motivation.“ Zudem wurde Jackson erst in einen Metallkurs gesteckt. Wenn man ihn fragte, was genau er dort tut, konnte er die Frage nicht recht beantworten, „It’s okay“, sagte er nur. Nun macht er „something with wood“. Jacksons Wunsch war es, Elektriker zu lernen.
Oft ruft Jackson Freunde an, die er mittlerweile in Hamburg hat. Frühmorgens etwa, wenn er nicht schlafen kann. Die Betreuer in der Unterkunft, okay, die sind auch für ihn da, weiß er. „Aber wenn die Arbeit zu Ende ist, gehen sie nach Hause.“ Erst vorige Woche hat er erleben müssen, auf wen er sich hier verlassen kann. Da hatte er so starke Magenschmerzen, dass er sich auf dem Boden krümmte. Und wer war da? Niemand. Also rief er selbst den Notarzt an.
Als Jackson halb erfroren auf der „MS Osnabrück“ hinter einem Stapel Holz gefunden wurde, kam er kurz ins Krankenhaus, bis er wieder bei Bewusstsein war. Von da aus ging es direkt ins Hamburger Abschiebegefängnis Glasmoor. Rund zwei Wochen war der Fünfzehnjährige dort. Gerade hatte er von Mitgefangenen erfahren, dass er nicht in England, sondern in Deutschland ist, als die Wasserschutzpolizei ihn auf das Containerschiff „MS Münster“ setzen und nach Westafrika zurückbringen wollte – nur mit seinem T-Shirt und Shorts bekleidet. In letzter Sekunde gelang es ihm, einen Asylantrag zu stellen.
Dass er heimlich nach Europa übersetzen wollte, hatte er damals niemandem erzählt, auch dem Bruder nicht, der an der Elfenbeinküste lebt. „Ich behauptete, ich würde nach Liberia zurückgehen. Die Wahrheit konnte ich ihm nicht sagen.“ Warum? „Ich wusste, es ist riskant“, sagt er, und: „Ich hatte Angst.“ Die steigerte sich während der Überfahrt ins Unermessliche. Jackson kannte den Film „Deadly Voyage“, in dem Seeleute blinde Passagiere auf dem Schiff jagen und töten. Auf der „MS Osnabrück“ war noch ein anderer blinder Passagier, den er erst für einen Seemann hielt und vor dem er sich versteckte. Erst als er dessen Vorräte entdeckte, wusste er, dass er sich nicht allein zwischen der Fracht verbarg. Ein Schiffsingenieur der „MS Osnabrück“ offenbarte hinter vorgehaltener Hand, dass die Besatzung schon kurz nach dem Auslaufen in Abidjian von einem blinden Passagier wusste. Ein Seemann hatte Abdrücke nackter Füße entdeckt. Nachts, wenn der Käpitän schlief, erzählte der Ingenieur, hätten sie Wasser für den heimlich Mitreisenden rausgestellt. Genommen hat Jackson es nie. Er hatte Angst vor einer Falle.
Über seine Geschichte spricht Jackson nur, weil er nicht unhöflich sein will. Eigentlich hat er wenig Lust, sie immer wieder zu erzählen. Oft hat er es schon getan, gegenüber seinen Bekannten und der Ausländerbehörde. Nur John erfährt noch alle Details. John ist sein Freund. Wenn er seinen Namen erwähnt, breitet sich ein warmes Lächeln über sein Gesicht.
Auf die Frage, was er sich für die Zukunft wünscht, lacht Jackson verlegen auf, als habe man ihn bei etwas Verbotenem ertappt. Die Antwort bleibt er schuldig. Er weiß, dass sein Leben sich nicht danach entwickeln wird, was er sich wünscht, sondern was „sie“ mit ihm machen. „Sie“ sind die Mitarbeiter der Ausländerbehörde. Sie glauben ihm nicht, dass er aus Liberia kommt. Sie geben ihm nie mehr als eine Duldung für ein paar Monate. Und sie wollen ihn zurückschicken, nach Afrika, „in irgendein Land dort“. Jackson sagt, er fühle sich „like remote control“, ferngesteuert. In Deutschland jedenfalls dürfe er nicht bleiben, das sei klar. „Kann sein, dass sie morgen kommen und sagen, ich muss zurück.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen