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Die Mumus, Sydney und Pfoten an Eifeler Vulkanfels

Langsam kriecht der Frost von draußen herein, und der Privatgelehrte Prof. Stolven sagt: „Gehen Sie nur! Ich werde Ihnen alles zeigen ...“ Ein durchaus notwendiger Vorausblick auf die zahllosen Höhepunkte des Fernsehprogramms im Jahr 2000 ■ Von Michael Ringel

Für RTL 2 von einer russischen Rakete ins All getragen, treiben es die Pärchen schwerelos. Leider fällt im entscheidenden Moment der TV-Satellit aus ...

„Sie interessieren sich also für das Fernsehen“, knarrte Professor Stolven und beugte seinen blauädrigen Löwenkopf zu mir herüber. Ich nickte, und der zarte Greis schüttelte seine weiße Mähne.

Stolven ist Privatgelehrter, wie ich bereits wusste. Wir waren die einzigen Fahrgäste im Überlandbus. Draußen fiel der Schnee in die Nacht. Seit zehn Minuten saßen wir fest. Ein Defekt am Motor, wie der Fahrer erklärte, bevor er mürrisch hinabstieg, um in der Kälte zu werkeln. „Glauben Sie, dass es noch lange dauert?“, versuchte ich das Gespräch wieder in Gang zu bringen. Professor Stolven trug einen eleganten schwarzen Anzug über einem karamelfarbenen Hemd; unter seinem faltigen Hals prangte eine unmodisch große, rote Fliege.

„Wir werden uns die Zeit nehmen“, kicherte er und schüttelte wieder den mächtigen Kopf. „Das Fernsehen. Wollen Sie etwas über seine Zukunft erfahren?“ Langsam kroch der Frost von draußen herein. „Das nächste Jahr. Ich werde Ihnen alles zeigen.“ Plötzlich verengten sich seine grünen Augen, und die langgebogenen Finger krallten sich um den silbernen Knauf seines Gehstocks, den er hochhob und dreimal kräftig auf den Boden schlug.

Ruckelnd und zischelnd versagten die Lampen, blaues Licht gloste um den Bus, dessen Fensterscheiben bunt aufleuchteten. Menschen liefen durch Bilder: das Fernsehprogramm 2000. „Gehen Sie nur!“, wies mir der Professor mit dem, wie ich erst jetzt bemerkte, spitz zugefeilten Nagel seines Zeigefingers den Weg. Ich lief den Gang hinab, von Scheibe zu Scheibe, von Programm zu Programm.

Und sehe als erstes Peter Kloeppel. Der Nachrichtensprecher kniet während einer „RTL-aktuell“-Sendung über seiner Co-Ansagerin Ulrike von der Groeben und versucht, ihr Gebiss auseinanderzuziehen. Bei dem Wort „Foormell Einz-Tzirkuss“ haben sich ihre Brücken endgültig verhakt. Dabei bricht sich Kloeppel das Puddinggesicht und muss fortan alte Quizshows moderieren. Der einzige Höhepunkt im RTL-Programm. Ansonsten Talkshows, Talkshows, Talkshows.

Ich laufe weiter, doch auch die nächste Scheibe zeigt kaum Neues. Das Programm 2000 wird beschaulich. Nachdem im vermeintlichen Jahrtausendendjahr 1999 allzu viel auf das Publikum einstürzte, braucht der Zuschauer Ruhe und Kontinuität – meint zumindest das ZDF. Die Mainzer sichern sich ihre Spitzenposition als fünfwichtigster Sender zwischen 18 Uhr und 19 Uhr mit einem aktuell entworfenen Konzept: Wiederbelebung auf deutsch: Lassie, Flipper, Fury und Skippy heißen die ZDF-Helden 2000, die jetzt durch deutsche Fernsehlande hecheln, schnattern, wiehern und janken. Lassie schneidet sich die wehen Pfoten an Eifeler Vulkanfels; Flipper tanzt rückwärts über den Starnberger See; Fury jagt durchs Elbsandsteingebirge; und Skippy verschreckt Schnucken in der Heide. Spannung! Kitzel! Erregung! Im Zett Dee Eff! Der Sender des zweiten Gedankens.

Das nächste Fenster muss die ARD sein. Dunkel rollen die Bilder heran. Das große schwarze Sommerloch des Fernsehens. Die Olympischen Spiele. Rund um die Uhr. Aus Sidney. In Australien. Sensationen der Langeweile. Aufgepumpte Körperimitate laufen im Kreis. Muskelstränge zucken in Zeitlupe. Komatöse Strandreportagen durchbrubbelt von Waldemar Hartmann. Wer mag das sehen? Die ARD versendet sich.

Im Fenster von Pro 7 drängeln sich die „Mumus“. Nach dem Misserfolg von „Mallorca“ und der „Morning Show“ bringt der Münchner Sender etwas Besonderes: die kommerzielle Antwort auf die „Teletubbies“. Die „Mumus“ leben noch weniger und werden noch früher gesendet: um 4.00 Uhr morgens. Das schafft das richtige Werbeumfeld. Mit dem „Mumu“-Merchandising saniert sich denn auch Pro 7 nach dem Kurssturz der Aktie an der Börse. Allerdings wird bald entdeckt, dass die „Mumu“-Figuren Seelenkrebs verursachen, was den Kirch-Sender doch noch in die Pleite führt.

Als ich weiterlaufe, leuchtet das Gesicht von Sat.1-Chef Fred Kogel, der bei seinem Familiensender endgültig alles selbst in die Hand nimmt und seiner Freundin Alexandra Kamp die Rolle ihres Lebens verschafft. In „Brennpunkt Bibel – Wenn Herzen glauben“ spielt sie eine Vikarin, die per Zeitmaschine ins Jahr 33 n. Chr. gelangt, den Zimmermannssohn trifft und beinah vor der Annagelung bewahrt.

Weiter noch reist RTL 2, das den TV-Coup des Jahres landen möchte. Zusammen mit dem schwedischen Hardcore-Unternehmen „Private“ plant der Kölner Schamhaarsender die Show „Wild im Weltraum – live“. Von einer russischen Rakete ins All getragen, treiben es muntere Pärchen schwerelos. Leider kommt es im entscheidenden Moment nicht zur Übertragung. Der TV-Satellit fällt aus. Eine kasachische Bastelstunde für Strohsterne geht über den Schirm. Nackt im Sonnenwind verglühen die Kopulanauten. War es Sabotage? Die Russenmafia? Jelzin? Aber den gibt es zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr. Die Liveübertragung vom Staatsbegräbnis aus Moskau schlägt alle Einschaltrekorde und selbst die Berichterstattung aus Rom. Ein letztes Mal winkt mir der Papst von der Fensterscheibe zu. Ich sehe, wie der weiße Rauch über dem Vatikan aufsteigt. Und aus dem Münchner Kardinal Ratzinger wird Innozenz XIV. – Aber Moment mal! Der Heilige Vater stirbt ausgerechnet im Heiligen Jahr? Ein Deutscher soll in die Schuhe des Fischers schlüpfen? Niemals! Dafür ist die alte polnische Flugente zu zäh. Zum ersten Mal zweifle ich an dem, was ich sehe. Das kann nicht wahr sein. War alles nur Betrug?

Mit einem entsetzlich lauten Knacksen brachen die Bilder zusammen. Die Lampen im Bus leuchteten wieder milchig weiß. „So, das wär geschafft“, stapfte der Fahrer von draußen die Treppe herauf. „Sie können sich wieder hinsetzen. Es geht weiter.“ Ich blickte mich um. „Wo ist Professor Stolven?“ Der Bus war leer. „Was fürn Professor? Wir sind hier die einzigen. Wer ist schon sonst am Arsch der Welt nachts unterwegs?“ Der offensichtlich prostatakranke Mann zog die Mundwinkel nach unten. „Ich habe keinen Führerschein“, antwortete ich. „Kann nicht Auto fahren und sieht Geister“, murmelte der Fahrer und beendete damit das Gespräch.

Stöhnend kletterte er auf seinen Sitz und startete den Motor. Ich ließ mich in die letzte Bank fallen, fühlte aber plötzlich, dass jemand hinter mir war. Ich drehte mich um und sah hinaus. Im Schnee steckte ein Gehstock. Der silberne Knauf blitzte rot auf von den Rücklichtern des davonfahrenden Wagens.

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