: Reden kostet Kraft
Blicke fangen und berühren: Schau mir in die Augen, ich will mit Dir reden. Gehörlose Kinder müssen erst lernen, dass sie anders sind ■ Von Sandra Wilsdorf
Eileen macht mit ihrer kleinen Hand ihre Nase groß und knollig. „Ricardo, du bist ein Clown“ soll das heißen. Ricardo ist das egal. Er lacht weiter und macht „ahahahahahah“ und „gagagagaga“, so laut er kann. Vor allem aber so laut, dass er es selber hören kann. Denn Eileen und Ricardo haben nur einen Hörrest – und gelten damit als gehörlos.
Die beiden Fünf- und Sechsjährigen gehen in die Kindertagesstätte Hammer Straße in Wandsbek. 42 Kinder werden hier betreut, zwölf von ihnen sind gehörlos. „Weil es immer weniger gehörlose Kinder in Hamburg gibt, haben wir inzwischen nur noch eine Gruppe mit Gehörlosen“, sagt Uta Nickel, Leiterin der Kindertagesstätte. Hinzu kommen eine Gruppe für Kinder mit anderen Behinderungen und eine für nichtbehinderte Kinder. Weniger Gehörlose gebe es unter anderem deshalb, weil wegen der Routine-Impfungen immer weniger Schwangere an Röteln erkrankten. Die Krankheit war eine der Hauptursachen für Gehörlosigkeit bei Babys.
Die drei Gruppen werden meist separat, beim Sport und beim Kochen aber zusammen betreut. Das macht hörende Kinder sensibel für Anderssein „und für die Gehörlosen ist es ein Stück Normalität, denn sie leben nun einmal in einer Welt der Hörenden und lernen so, mit ihnen zu kommunizieren“, sagt Uta Nickel.
Ein nichtbehindertes Kind hat das seiner Mutter einmal so erklärt: „Also, da ist unsere Gruppe, dann noch eine und dann gibt es die Ungezogenen.“ Es hat eine Weile gedauert, bis die ratlose Mutter und Uta Nickel darauf kamen, dass wohl die Redewendung „Bist Du wieder ungezogen? Kannst Du nicht hören?“ die Drei-Jährige auf die Idee gebracht hat, Gehörlose seien ungezogen.
Die Kinder verfolgen einander auf dem Flur, spielen, malen, toben, und dabei ist es kein bisschen stiller als in jeder anderen Kita. Nur hier und da funktioniert die Kommunikation anders. Eileen und Ricardo malen einen Mond. Eileen ist dabei still, Ricardo gackert. Er sucht ihren Blick, fängt ihn auf, zeigt auf ihr Bild und lacht. Er will sich lustig machen, und dafür braucht er ihren Blick. Er kann nicht einfach sagen: „Ey Eileen, was malst Du denn da?“ Wenn gehörlose Kinder nicht zuhören wollen, halten sie sich nicht die Ohren zu, sondern bedecken ihre Augen.
Anika will nach draußen. Sie zeigt auf die fremde Frau, bewegt die Hand von ganz oben nach ganz unten. „Wer ist das?“ will sie von Uta Nickel wissen. Aber weil die Erzieherin ihr gerade die Schuhe zubindet, sieht sie die Frage nicht. Anika tippt ihr auf die Schulter und wiederholt die Geste. „Eine Frau, die uns besucht“, antwortet Nickel mit Gebärden. Blicke auffangen, jemanden berühren oder so sehr auf den Tisch hauen, dass der Mensch auf der anderen Seite das Vibrieren spürt: Auf sich aufmerksam zu machen, kostet Kraft.
„Wenn die Kinder zu uns kommen, müssen viele erstmal verstehen, dass sie nicht hören können“, sagt Uta Nickel. Denn Ärzte haben für Eltern selten die Diagnose parat, dass ihr Kind nicht hören kann und es nie können wird. Für eine so definitive Aussage gibt es zu viele medizinische Möglichkeiten. Die Diagnose lautet deshalb meist: Schwerhörigkeit oder an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit. Daran klammern sich viele Eltern. Viele Kinder bekommen ein Cochlear-Implantat ins Ohr operiert, das den Hörnerv reizt. Mit Hilfe eines Sprachprozessors und sehr viel Übung können sie so lernen, Geräusche zuzuordnen und zu sprechen.
Doch so viele Möglichkeiten es auch gibt, nicht allen Betroffenen kann geholfen werden. Zu akzeptieren, dass ein Kind nicht hören kann und es nie können wird, verändert das Familienleben. Denn auch Eltern und Geschwister müssen eine neue Sprache lernen, um sich am Frühstückstisch mit dem gehörlosen Kind unterhalten zu können, seine Wünsche zu verstehen oder mit ihm schimpfen zu können. „Manche Kinder kommen erst zu uns, wenn sie schon vier oder fünf Jahre ohne Kommunikation gelebt haben“, berichtet Nickel. Einige von ihnen haben sich bis dahin längst eine ureigene Welt in ihrem Kopf geschaffen oder verhalten sich auffällig.
Ihnen ist oft nicht klar, dass sie etwas von den anderen unterscheidet. „Wir haben Mitarbeiterinnen, die hören und welche, die nicht hören. Die Kinder müssen verstehen, wa-rum die einen reagieren, wenn sie Laute von sich geben und die anderen nicht.“ Wenn sie dann zum ersten Mal den Hörer des Spieltelefons aufheben und Geräusche machen, „dann weiß ich, dass sie es verstanden haben“.
Und dann geht es los. Zusammenhänge herstellen. „Ein gehörloses Kind nimmt Informationen nur über die Augen auf, hat aber keine Begriffe für die Dinge. Wochentage zu erklären, ist zum Beispiel ganz kompliziert“, sagt Uta Nickel. In der Kindertagesstätte lernen die Kinder bilingual: Lautsprachenbegleitende Gebärden (LBG) und Deutsche Gebärdensprache (DGS). Die hörenden Mitarbeiter sprechen und unterstützen ihre eigenen Worte mit den entsprechenden Gebärden. Die gehörlosen Mitarbeiter „gebärden“ nur.
Es gibt aber auch Verfechter der Theorie, dass Gehörlose gar nicht „gebärden“ sollen, sondern Lippen lesen und sprechen lernen müssen. Die beiden Lager trennt ein tiefer Graben des Glaubens. „Die Gebärdensprache kann Dinge leichter erklären, ist sehr viel bildhafter“, meint Nickel. Das Problem: Gebärdensprache ist als Sprache in Deutschland nicht anerkannt. Ihre Kritiker meinen, dass sie die Menschen in eine Isolation treibt, und sie deshalb unter allen Umständen sprechen lernen müssen. Gebärden-Befürworter hingegen beklagen die Zeit, die dabei verloren geht, dass ein Kind Lippen lesen und artikulieren lernt, bevor es endlich inhaltliche Informationen aufnehmen darf.
In der Wandsbeker Kita lernen die Kinder deshalb Mundbilder, Artikulation, Lautsprache und Gebärden, erläutert Nickel: „Wir transportieren Inhalte in Gebärdensprache und arbeiten in LBG nach“. So hat das Kind zunächst verstanden, worum es geht und lernt dann die Worte dazu.
Ricardo weiß, dass es Menschen gibt, die anders sind als er. Bevor er sich auf die fremde Frau einlässt, hat er einiges zu klären. Er zeigt auf sein Ohr, seinen Mund und auf sein Gegenüber. Heißt das wohl: Kannst Du hören? oder: Kannst Du nicht hören? Kopfschütteln. Er versteht, sieht ein bißchen enttäuscht aus. Zieht an seinem Ohrläppchen: Frau. Mann? Er macht eine Geste, als wollte er einen Mützenschirm aus seiner Stirn ziehen. Er will mehr wissen, kneift sich in die Wange. Augenbrauen ganz hoch, Augen ganz weit auf, sein Gesicht eine einzige Frage. Er zeigt sechs Finger hoch. So alt ist er. Wieder der Frage-Blick. Vielleicht will er das Alter seines Gegenübers wissen. Zu viele Jahre für zehn Finger. Jetzt erstmal vorstellen: Er schreibt seinen Namen auf, „RICARDO“, und schiebt den Zettel rüber: „SANDRA“. Er liest, buchstabiert mit dem Fingeralphabet und strahlt.
Einmal bekannt, will er ein gemeinsames Kunstwerk und schiebt sein Bild vom Mond über den Tisch. Aber bitte nur in grün. Eileen zeigt auf den einfarbigen Mond und lacht. Ihrer ist gelb, rot, orange, blau, grün, eben alles, was der Stiftekasten hergibt. Ricardo will ihr das Bild wegziehen, und jeder will den Kasten mit den Wachsmalstiften ganz für sich alleine. Die Erzieherin, die zwischen den beiden sitzt, schlichtet. Erzieherinnen-Alltag.
Und dann kommt Mossem von hinten und pflückt Ricardo das Hörgerät aus seinem rechten Ohr. Mossem kann hören, aber er lebt und forscht für sich allein. Immer in Bewegung, schweift sein Blick unablässig. Und wann immer seine Augen an etwas hängen bleiben, muss er hinlaufen und es berühren. Die anderen Kinder lässt er in Ruhe und sie ihn. Es geht ihm jetzt auch nur um das Gerät in Ricardos Ohr.
Ricardo, der gerade eben noch lachte wie ein Gecko, ist plötzlich ganz still. Er hört nichts mehr. Auch nicht, als er sich das Gerät wieder eingesetzt hat. Die Batterien sind leer. Die Erzieherin holt ihm neue. Das Piepen freut ihn. Sein Gesicht ist ein einziges Strahlen. Er wirft den Kopf in den Na-cken und lacht. „Gagagagagagm, aaaahhh“. So laut, dass er sich hört.
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