: Der Glaube soll in Berlin wieder Schüler versetzen
Schluss mit der Extrawurst: Religion muss ordentliches Lehrfach werden – wie in fast allen Bundesländern ■ Von Philipp Gessler
Ginge es in Berlin nach den Worten von Landesbischof Wolfgang Huber, müsste es den Eisdielenbesitzern blendend gehen. Denn wenn er auf das Thema Religionsunterricht kommt, pflegt der streitbare Kirchenmann stets zu sagen: Nur die Berliner Schüler können in Deutschland entscheiden, ob sie lieber einen wertorientierten Unterricht besuchen oder die Eisdiele um die Ecke.
Die Aussage Hubers ist überspitzt, aber sie stimmt. Und das, obwohl das Grundgesetz, bei aller Autonomie der Länder in Schulfragen, einen Religionsunterricht als „ordentliches Lehrfach“ ausdrücklich fordert.
Berlin muss sich zwar auch an das Grundgesetz halten, nutzt aber eine verfassungsgemäße Extrawurst, die so genannte „Bremer Klausel“. Diese Ausnahmeregelung wurde für alle Bundesländer eingeführt, die bei der Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 schon eigene Bestimmungen für den Religionsunterricht verabschiedet hatten: Im Berlin der Besatzungszeit unmittelbar nach dem Krieg war so bereits in den Westsektoren die völlige Freiwilligkeit des Religionsunterrichts festgeschrieben worden. Ebenso in Bremen, das unter amerikanischer Besatzung war.
Alle anderen Bundesländer konnten oder wollten diese Ausnahmeregel nicht nutzen. Auch die neuen Länder taten dies nicht, von Brandenburg einmal abgesehen. Religion wurde also überall ordentliches Lehrfach, allerdings ein „Wahlpflichtfach“. Das heißt: Die Schüler können dem Religionsunterricht zwar fernbleiben, müssen dann aber Ethik, Philosophie oder den Unterricht einer nichtchristlichen Religionsgemeinschaft belegen. Eis essen, wie in Berlin, ist also nicht.
Auch im Stolpe-Land Brandenburg ist trotz der Bremer Klausel kein Eisessen angesagt. Mit großen Mühen wurde vor drei Jahren zwischen Pritzwalk und Eisenhüttenstadt das Lehrfach „Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde“ (LER abgekürzt) etabliert. Der Name beschreibt das Fach ganz gut. Besonders daran ist, dass LER ein „ordentliches Lehrfach“ ist. Das bedeutet, alle Schülerinnen und Schüler müssen grundsätzlich dem Unterricht folgen. Befreit werden kann nur, wer ausdrücklich Religionsunterricht will. Die Brandenburger haben also das Grundgesetz auf den Kopf gestellt: Religionsunterricht ist von der Regel zur Ausnahme geworden.
Kein Wunder, dass die evangelische und katholische Kirche gegen diese Regelung Verfassungsbeschwerde eingelegt haben. Die Mühlen in Karlsruhe aber mahlen langsam, seit Jahren brüten die roten Roben über der Frage – frühestens im Frühjahr dieses Jahres wollen sie ein Urteil sprechen.
Überall sonst in Deutschland hat man also keine größeren Probleme mit der Religion in der Schule – warum dann in Berlin? Die Krux in der Hauptstadt ist, dass der Religionsunterricht von verschiedenen Seiten zu einer politischen Glaubensfrage gemacht worden ist. Während sich die CDU für ein Wahlpflichtfach Religion (Alternativfach: Ethik) ausspricht, hat die SPD per Parteitagsbeschluss festgelegt, dass sich an der bisherigen Regelung nichts ändern dürfe. Auch die Grünen der Landesebene haben diese Position, ebenso die PDS. Die Argumentation der Gegner eines Wahlpflichtfachs ist dabei stets: Staat und Kirche müssten strikt getrennt sein, eine Wertevermittlung müssten die Lehrer aller Fächer leisten. Ein Fach, in dem die Kids Berlins über die letzten Dinge nachdenken sollen und können (ob es nun Religion heißt oder Ethik), wollen die Gegner des wertorientierten Fächerkanons in den Schulen der Hauptstadt partout nicht sehen.
Einer kann sich das nicht mehr erklären: Der neue Schulsena- tor Klaus Böger (SPD) spricht sich seit neuestem für ein Wahlpflichtfach Religion aus. Er hat als Unterstützerin für diese Position nicht nur die grüne Bundestagsabgeordnete Christa Nickels, die einen konfessionellen Religionsunterricht als „unverzichtbares Element“ im Bildungssystem eines säkularen Staates bezeichnet hat. Auch der bereits vom Berliner Senat mit der evangelischen Kirche ausgehandelte Staatskirchenvertrag sieht ein Wahlpflichtfach Religion als Teil einer Fächergruppe vor. Das Papier muss aber noch eine Mehrheit im Parlament finden, und die ist mehr als unsicher.
Landesbischof Huber kritisiert, „mit wachsendem Unverständnis“ schauten Beobachter von außen auf den Berliner Glaubenskrieg. Denn objektiv betrachtet, seien die Regelungen des Staatskirchenvertrags so fortschrittlich, dass sie den Gegnern eines Wahlpflichtfachs Religion eigentlich gefallen müssten: Ein Ethik- oder Philosophieunterricht sei garantiert. Und Freidenker-Vereinigungen wie der Humanistische Verband könnten mit staatlichem Segen ihre atheistisch-agnostische Lebenskunde in einem Fächerkanon mit Teilnahmepflicht erteilen.
Das Fach Lebenskunde müsse nicht mehr – wie jetzt auch der Religionsunterricht – meist aus organisatorischen Gründen zu ganz unchristlichen Zeiten unterrichtet werden. Die Wahlpflicht-Gegner müssten es dafür jedoch ertragen, dass auch christliche, jüdische und islamische Lehrer einen vom Staat überwachten Unterricht erteilen. Das ist vielen schon zu viel.
Die Gegner ficht nicht an, dass der Druck auf die Schüler durch das geplante Wahlpflichtfach Religion nur äußerst schwach ist: Denn natürlich steht es jedem Schüler frei, mit 14 Jahren selbst zu bestimmen, ob er Religions-, Ethik- oder Lebenskundeunterricht haben will. Zudem haben sich noch nicht einmal die Kirchen darauf festgelegt, ob überhaupt Noten in der Fächergruppe vergeben werden und ob dies alles versetzungsrelevant sein soll. In welchem anderen Schulfach gebe es so viel Freiheit?
Ein Drittel der Berliner Schüler jedenfalls geht freiwillig in den Religionsunterricht – obwohl sie damit keinen Blumentopf gewinnen können und nur mehr Arbeit haben. Bedenkt man zudem, wie schwer es ist, in Ostberlin mit seinen wenigen Christen überhaupt Religionsunterricht für die Interessenten zu organisieren, erscheint die Quote der an Religion Interessierten sogar noch höher. Rechnet man schließlich auch die vielen Muslime in den Schulen ab, ist die Akzeptanz für Religion in der Hauptstadt also erstaunlich groß. Da sieht selbst die Eisdiele alt aus.
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