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Börsenkurse auf Talfahrt

Experten beurteilen die derzeitigen Börseneinbrüche keineswegs als Crash, sondern als „Kurskorrektur“ ■ Von Hermannus Pfeiffer

Berlin (taz) – Weltweit befinden sich die Börsenkurse im Abwärtstrend. Nach New York und Tokio konnte sich gestern auch der Deutsche Aktienindex Dax nach kräftigen Verlusten zu Handelsbeginn nur mühsam bei knapp über 6.500 Punkten stabilisieren. Schon am Dienstag hatte der Dax einen geradezu historischen Verlust erlitten und mit einem Tages-Minus von fast 6 Prozent abgeschlossen.

Die 670 inländischen Aktiengesellschaften büßten innerhalb von wenigen Stunden rund 150 Milliarden Mark an Wert ein. Auch an den meisten europäischen Börsen geben die Kurse deutlich nach: In London, Paris, Mailand und Zürich fielen die Aktienindizes ebenfalls wie in Deutschland, in Amsterdam und Brüssel sackten die Kurse noch stärker ab. Börsenbeobachter warnen nun vor einer Panik: Der Kurssturz sei eine normale „Wellenbewegung“, sogar von einer „Normalisierung“ wird in Frankfurt am Main gesprochen. Vereinzelt lassen sich jedoch auch Stimmen vernehmen, die jetzt den schon lange prognostizierten Crash erwarten.

Vorausgegangen war im Dezember 1999 eine Welle von Kursrekorden. Zu der alljährlich aufkommenden Jahresendeuphorie gesellten sich diesmal zwei Steuergeschenke der Bundesregierung.

Zum einen wurden die Kurse durch die Steuerfreistellung von Gewinnen beflügelt, die aus verkauften Firmenbeteiligungen stammen. Kostbare Industrieperlen, die in den Bilanzen noch als stille Reserven versteckt sind, können nun verkauft werden, ohne dass die Hälfte des Erlöses an den Fiskus gezahlt werden muss. Damit erfüllte Bundeskanzler Schröder eine alte Forderung der Finanzbranche. Insbesondere Großbanken und Versicherungen erwarten dadurch zusätzliche Milliardengewinne, was wiederum die viel beschworene Phantasie der Anleger reizt und die Börsenkurse nach oben treibt.

Auf dieses „Weihnachtsgeschenk“, wie es eine wirtschaftsnahe Zeitung nannte, packte die Bundesregierung noch ein Millenniumspräsent oben drauf: Künftig sollen weniger Steuern auf Dividenden und Aktiengewinne gezahlt werden. Wer sein Geld in Aktien anlegt, muss innerhalb der Spekulationsfrist von einem Jahr bald erheblich weniger Steuern zahlen. Kursgewinne werden dann innerhalb dieser Frist nur noch zur Hälfte besteuert. Nach Ablauf der Spekulationsfrist bleiben sie weiterhin vom Fiskus unbehelligt.

Noch am ersten Handelstag im Januar überwand der Dax erstmals die Marke von 7.100 Punkten. Dazu beigetragen hatten gute Konjunkturaussichten in Euroland und die erfolgreiche Bewältigung des Jahr-2000-Problems. Gestern mittag jedoch war der Dax vorübergehend auf unter 6.500 Punkte abgesackt. Nahezu übereinstimmend sprechen Banken, Börsianer und Beobachter von einer „Normalisierung“. Nach dem Dezember-Boom seien nun die Kursgewinne realisiert worden, indem Aktien massiv verkauft wurden. Für diese Einschätzungen sprechen auch die rasant gestiegenen Umsatzzahlen der Deutschen Börse in Frankfurt.

Im Hintergrund der nun seit Mitte der Neunzigerjahre andauernden Börsenbegeisterung stehen zwei grundlegende „Fundamentaldaten“, welche die Aktienmärkte in immer neue Rauschzustände versetzen. Insbesondere fließt aus einem gigantischen Geldüberhang im In- und Ausland fortlaufend neues Kapital in die Börsen.

„Schuld“ daran haben die Sparleidenschaft der Bürger in den Industriestaaten, aufgeblasene Spekulationsgewinne aus der Vergangenheit sowie hohe Profite vieler Konzerne. Dagegen steht der Mangel an Investitionsmöglichkeiten in der Wirtschaft infolge fehlender Nachfrage. Notgedrungen fließen daher immer weitere Milliarden von Dollar, Mark und Yen auf die führenden Aktienmärkte. Die zweite grundlegende Fundamentalmarke setzen international die niedrigen Zinssätze. Dadurch bleiben allerdings Sparanlagen im Vergleich zur Geldanlage in Aktien uninteressant. Und diese Zinsebbe beschert den Börsen weitere Finanzfluten, denn wer will schon sein Erspartes oder Gewonnenes für 1, 2 oder 3 Prozent anlegen?

Als Hilfsmotor beim Aufstieg der Aktienkurse wirkten zuletzt auch eine blinde Begeisterung für Telekommunikation und Internet. „Die Globalisierung braucht moderne Technologien“, fasst ein Hamburger Börsenexperte die Erwartungen seiner Kollegen zusammen. In der irrationalen Begeisterung für Internet-Aktien schlummert jedoch auch eine akute Gefahr: Firmen mit Umsätzen von nur wenigen Millionen und hohen Verlusten werden an den Börsen mit üppigen Milliardenwerten gehandelt.

Solche und andere Spekulationsblasen werden platzen. Einige Ökonomen wie Rudolf Hickel oder Paul Krugmann halten sogar einen größeren Crash für wahrscheinlich. Trotzdem wird der Finanzplatz Deutschland auf Grund seiner stabilen Struktur und seiner ökonomischen Stärke weich landen. Der moderne Kapitalismus wird auch den nächsten „Schwarzen Freitag“ überleben, egal an welchem Wochentag er stattfindet.

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