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Hysterie ■ Die Anklage gegen den gewaltig dichtenden Schüler war überzogen
Bei allem Verständnis, dass es gerade nicht gut kommt, wenn ein Schüler über Mord an Lehrern dichtet, in Hysterie muss man deshalb nicht gleich verfallen. Was ist schon Schlimmes passiert? Ein 15-jähriger Gymnasiast, voll in der Pubertät, wahrscheinlich mit Stress in der Schule, vielleicht mit begründetem Groll gegen einen Lehrer (soll ja vorkommen), schreibt sich in Reimform seinen Frust von der Seele, vielleicht will er auch einfach nur provozieren.
Und wie reagiert die Gesellschaft? Er kommt vor Gericht, die Staatsanwaltschaft will ihn gar wegen Volksverhetzung anklagen, und mancher spricht sogar vom Aufruf zum Mord. Wo bitte bleibt da die Vernunft? Schließlich geht es, anders als in dem aktuellen Fall an einer Berliner Schule, nicht um eine Drohung gegen einen ganz bestimmten Lehrer.
Man höre sich nur die Musikcharts an. Es wimmelt schon lange von Gewaltverherrlichungen. Nicht, dass das zu begrüßen wäre, aber vor dem Strafrichter landen die Musiker deswegen noch lange nicht. In den Achtzigerjahren hat der englische Musiker Morrissey in dem Song „Margaret and the guillotine“ den Tod der englischen Premierministerin Thatcher heraufbeschworen. Am Ende des Songs fällt eine Guillotine.
Geschmacklos? Für die einen bestimmt, aber verboten wurde der Song nicht. Und das ist gut so. Meinungsfreiheit eben. Nur Dummköpfe nehmen jedes Wort ernst und verwechseln den Ausdruck von Frust und Lebensgefühl bereits mit Taten. In einer freiheitlichen Gesellschaft muss es möglich sein, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
Erst recht, wenn es sich um Jugendliche handelt. Es ist ja richtig, dass man den Anfängen wehren muss, und netter wäre es, wenn selbst Fantasien gewaltfrei blieben. Aber es gehört nun mal zum Leben dazu, dass man zumindest im Geiste über die Stränge schlägt.
Vielleicht ist die Jugend ja heutzutage tatsächlich unempfindlicher gegen Gewalt geworden, auch wenn sich das in dem Gedicht, das bei Schülern aller Generationen Verständnis gefunden hätte, nicht unbedingt äußert. Vielleicht ist aber auch nur der Umgang mit Meinungsäußerungen ein anderer geworden.
Markus Franz
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