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Ach, Kreuzberg: Annette Berr schrieb 1986 „Nachts sind alle Katzen breit“

Vor dem Boom war auch schon Boom: Wir stellen in unregelmäßiger Reihenfolge Berlin-Romane vor, die vor 1989 erschienen sind.

Damals musste man noch kein Benjamin und 17 Jahre alt sein, um als jung zu gelten. Annette Berr war 23, als sie ihren Erzählungsband „Nachts sind alle Katzen breit“ veröffentlichte, und 1986 war das bemerkenswert.

Noch bemerkenswerter aber war, über was sie schrieb und wie sie das tat. Die einstige Hausbesetzerin beschrieb ihren Vielvölkerkiez zwischen Heinrichplatz und Oranienstraße und wagte auch mal einen Ausflug nach Schöneberg. Sie fand von „Punks und Nutten, Fett- und Schrumpflebern, langhaarigen Müslis und stinknormaler Nachbarschaft“, von Frauenlieben und hergelaufenen Jungmachos: Geschichten aus Kreuzberg zwischen Schnorren, Lieben und Den-Tag-um-die-Ohren-Hauen.

Das war rotzfrech und respektlos gegen die deutsche Grammatik und Zeichensetzung geschrieben und an den besten Stellen sogar romantisch. Kiezidylle mit Klo auf halber Treppe. So in der Art.

Das dürfte manch gestrengem Kritiker und Literaturbeflissenen die Haare zu Berge gestellt haben, aber Berrs Erzählungen waren so unverblümt autobiografisch, fast tagebuchmäßig, dass wir dann doch wieder bei Benjamin Leberts Gymnasiastenprosa landen.

Mit Annette Berr hatte Kreuzberg eine Stadtschreiberin bekommen. „Diese Stadt machte sie krank, höhlte sie aus, gab nichts her“, heißt es in einer der Erzählungen. „Aber irgendwie klebte sie hier, kam nicht weg, liebte diese vergammelten Straßen, die Häuser, die Menschen, sogar die Scheißluft liebte sie, eben einfach, weil das alles zusammengehörte, auch die Miestviecher von Tauben.“

Berrs Hommage an die Hure Kreuzberg scherte sich nicht um die herkömmlichen Hausbesetzerklischees, wie sie gerade in jenen noch recht wilden Tagen in den Medien verbreitet wurden, sondern lieferte ganz direkt ein ungehaltenes Gegenbild dazu. Eben erst erlebt, tags darauf schon in die Schreibmaschine getippt.

Ihrem Viertel blieb Annette Berr treu. Die beiden Bücher danach waren nicht mehr halb so gut. Sie verlegte sich aufs Malen, dann aufs Singen und und Texteschreiben. Im Grunde hat sich für sie eigentlich nicht viel verändert. Als Chansonette mit rauher Stimme besingt sie nun ihr Viertel und ihre Liebesabenteuer, statt Erzählungen daraus zu machen. Das Ausgangsmaterial ist das gleiche geblieben: der Blick hinaus aus dem Fenster auf die Straße. Und auf das Leben um sie herum. Und das beginnt bekanntlich gleich am Oranienplatz, bei Plus in der Kassenschlange.Axel Schock

Annette Berr: „Nachts sind alle Katzen breit. Geschichten“. Konkursbuch, Tübingen 2000. 160 Seiten, 15 DM