Putin ist nicht aufzuhalten

Der Sieg des Interimsstaatschefs bei den Präsidentenwahlen ist so gut wie sicher. Trotz Krieges im Kaukasus ■ Von Barbara Kerneck

Moskau (taz) – In dieser Woche erlebte die Welt eine Sternstunde der tschetschenischen Feldkommandeure. In Nähe der Orte Argun, Schali und Gudermes tauchte wie aus dem Nichts eine Armee aus zirka 1.500 Kämpfern auf. Die föderalen Truppen konnten sie nur unter hohen Verlusten zurückdrängen. Dies alles geschah in von den Russen angeblich „befreiten“ und von sämtlichen Diversanten „gesäuberten“ Gebieten. Die Folge ist eine erneute „Säuberung“ der betroffenen Dörfer. Außerdem hat die russische Führung die Grenzen Tschetscheniens für alle Männer im Alter über zehn Jahren dichtgemacht. Diese wandern jetzt wahrscheinlichkeit automatisch in die so genannten Filtrationspunkte – Lager, in denen viele Inhaftierte umkommen.

Die russische Öffentlichkeit schließt aus alledem, dass die föderale Armee ihr Hinterland nicht genug befreit hatte, um sich darin frei bewegen zu können. Und dass sie sich nicht genug Zeit genommen hatte, um die Siedlungen von Diversanten zu säubern.

In Russland macht ihnen aber diesmal niemand einen Vorwurf. Denn alle Beobachter gehen davon aus: Der Befehl zur Eile kam von „ganz oben“. Der Premier und Interimspräsident Wladimir Putin hätte gern schnelle Erfolge im Tschetschenienkrieg. Am liebsten etwas, das sich als Sieg verkaufen lässt – bis zu den Präsidentenwahlen Ende März.

Es handelt sich dabei aber um eine Art Optimalprogramm. Das Präsidentenamt ist Putin auch dann noch so gut wie sicher, wenn sich die Kampfhandlungen in Tschetschenien weiter hinziehen. Erstens kann er sich ein wenig Popularitätsverlust leisten – gegenwärtig würden ihn über 50 Prozent der BürgerInnen wählen. Zweitens erlaubt die strikte Kontrolle der Regierung über die Massenmedien, auch Rückschläge in Tschetschenien als Meisterleistungen russischen Feldherrengenies auszugeben. Drittens verläuft die Konsolidierung der russischen Eliten hinter Putins Rücken derart geschwind und zielstrebig, dass sie nicht so einfach zum Stillstand zu bringen sein wird.

Letztes Anzeichen dafür war diese Woche die Loyalitätserklärung gegenüber Putin, die der Präsident der russischen Teilrepublik Tatarstan abgab, Mentimir Schajmijew – noch gestern war er einer der drei Ersten in der mit der Kreml-Clique bei den Parlamentswahlen konkurrierenden Koalition Vaterland/Ganz Russland.

Was Wiktor Tschernomyrdin angeht, soll er vor Wut geschäumt haben, als er erfuhr, dass es seinem Block „Unser Haus Russland“ aus formalen Gründen nicht möglich sei, Putin früher als andere Parteien zu ihrem Präsidentenkandidaten zu proklamieren.

Diese Entwicklung beweist erneut, dass die so genannten Parteien und die Wahlblöcke in Russland kaum im westlichen Sinne zu verstehen sind, nämlich nicht als Repräsentanten verschiedener Bevölkerungsschichten. Einschließlich der Kommunisten repräsentieren sie gewisse privilegierte Kreise mit großen wirtschaftlichen Privilegien.

Was jene Leute betraf, die – wie Jegor Gajdar – noch Anfang der 90er als junge Reformer galten, so verschmolz die von ihnen repräsentierte liberale Elite schnell mit der alten Sowjet-Nomenklatura. Es wäre ein Verbrechen gegen den Kommunismus, die heute in Russland als „Kommunisten“ figurierende Partei von der Teilhabe an all diesen Privilegien freizusprechen. Was aber die Repräsentanten der staatlichen und nicht staatlichen Eliten angeht, so treffen sie sich bis heute wieder: als Leute, die daran interessiert waren, Geld zu machen. Geld machen konnte man in Russland vor allem während der Privatisierung.

Wichtigster Dirigent des Privatisierungsprozesses und Repräsentant der über allen Fraktionen schwebenden Putin-Überfraktion ist der Chef der Vereinigten Russischen Elektrizitätswerke, Anatoli Tschubais. Tschubais hat nicht nur Putin hinter den Kulissen aufgebaut: er gilt auch als Königsmacher der „Union rechter Kräfte“. Deren Mitglieder, wie Ex-Premier Sergej Kirijenko – traten bei den Wahlen als Vertreter der Jugend auf. Sie verfügen über ein eigenes technokratisches Programm. Als Inhaber dieses Programms und Leute ohne Macht können sie eine geradezu ideale Verbindung mit Wladimir Putin eingehen, der über die Macht verfügt, aber über kein Programm. Ein Vertreter der „Rechten“, wie Kirijenko, könnte nach den Präsidentenwahlen leicht für Putin den Premier spielen.

Schon zeichnet sich das Bestreben aller „Rechten“ ab, die Kriegseuphorie zu unterstützen. Sergej Kirijenko äußerte sich zu dem Thema sybillinisch: „Es ist unmöglich, eine politische Lösung in Tschetschenien mit Gewalt zu erreichen. Es ist aber auch unmöglich, mit den Terroristen auf andere Weise fertig zu werden.“ Drastischer äußerte sich Anatoli Tschubais. Er verglich den Krieg in Tschetschenien mit dem Zweiten Weltkrieg und Putin – unter positivem Vorzeichen! – mit Stalin: „Wie hätte man damals Leute bezeichnet, die dem Führer des Landes in den Rücken fielen: nicht anders denn als Verräter!“

Der Wahlsieg Putins ist so gut wie sicher, aber ebenso sicher wird das für ihn kein Zuckerschlecken. Auch wenn die föderale Armee es schaffen sollte, ihre Fähnchen auf alle tschetschenischen Bergpässe zu pflanzen, bleibt dem russischen Staat doch das Erbe eines erniedrigten Volkes, dessen Nachfahren sich rächen werden.

Unabhängig von einem militärischen Sieg in Tschetschenien, droht dieser Krieg die Haushaltsreserven aufzufressen. Im letzten Jahr empfanden Russlands BürgerInnen die Last der wirtschaftlichen Entwicklung als weniger drückend. Die Krise vom August 1998 hatte für die einheimische Industrie einen positiven Nebeneffekt: Die Verbrauchsgüterindustrie blühte auf. Auch kam der Föderation zustatten, dass international die Erdölpreise stiegen.

Vor diesem Hintergrund konnte Putin noch kein Rezept zur langfristigen Gesundung der russischen Wirtschaft anbieten. Die von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen dienen vor allem dazu, kurzfristig die Staatskasse zu füllen. So hat er angeregt, dass russische Exporteure in Zukunft 100 Prozent all ihrer Einnahmen in ausländischen Währungen der staatlichen Valuta-Börse verkaufen sollten. Nur aus diesem Topf könnte Russland die drei Milliarden Dollar Auslandsschulden zurückzahlen. Putin hat sich noch nicht besonders als starke Persönlichkeit hervorgetan. Allen Anzeichen nach ist er aber eine Konstante im Machtgerangel der russischen Eliten.