: Letzte Ausfahrt Prirechnyj
Die Barents-Region strotzt vor Umweltproblemen – und einzigartiger ursprünglicher Natur. Nun hoffen die Bewohner, dass ein sanfter Tourismus auch Investoren und Arbeitsplätze mit sich bringt ■ Von Beate Willms
Wie durchsichtige kleine Gespenster fegen dünne Schneeschwaden um die Häuserecken. Sausen mit dem eisigen Wind dicht über dem spiegelglatt überfrorenen Asphalt zwischen pelzgefütterten Schuhen und wattierten Knien hindurch, huschen in offene Mantelkragen und zu weite Hosenbeine.
Bitterkalt ist es in den leeren Straßen der nordwestrussischen Bergbaustadt Nikel im Oblast Murmansk. Kalt und dunkel. Denn hier, weit hinter dem nördlichen Polarkreis, herrscht die Dunkelzeit. Seit ein paar Wochen lugt die Sonne nicht einmal mehr über den Horizont. Bis Ende Januar erhellt nur der Schnee die Landschaft. Manchmal ein flackerndes Nordlicht. Und hin und wieder eine Straßenlaterne. Oder ein vorbeifahrendes Auto. Aber davon gibt es nicht viele hier am Ende der Welt.
Nur der Schnee erhellt die Landschaft
Bis zum Niedergang der sozialistischen Länder wussten nicht einmal die kaum 40 Kilometer entfernten norwegischen Nachbarn, dass so dicht hinter der Grenze, der einzigen zwischen einem Nato-Staat und Russland, mehr als 50.000 Menschen lebten. Militär ja, aber Arbeiter, Familien? Karten gab es nicht. Und ältere Leute aus der grenznahen norwegischen Stadt Kirkenes erzählen, dass Russlandbesucher während des Kalten Krieges in Wagen mit verhängten Fenstern durch das militärisch geschützte Gebiet gefahren wurden. Heute noch sichern Sperrzäune den Grenzstreifen. An jeder Ecke Stacheldraht und Türme mit bewaffneten Grenzern.
Dass inzwischen jährlich nahezu 100.000 Menschen die Übergänge passieren, während es vor zehn Jahren kaum 3.000 waren, hängt vor allem mit der Barents-Zusammenarbeit zusammen. 1993 haben sich die nordischen Länder, Russland und die EU-Kommission zusammengeschlossen, um die wirtschaftlichen und ökologischen Probleme des militärisch sensiblen Gebiets gemeinsam anzugehen. Mitarbeiter in regionalen Sekretariaten suchen die Kontakte vor Ort.
„Auf der russischen Seite fehlt beinahe jede Infrastruktur“, sagt Brit Åse Groonas, Konsulentin im Büro Kirkenes. Und auch sonst alles, was private Unternehmen dazu bringen könnte, sich hier anzusiedeln. In den letzten Jahren hat ein Kombinat nach dem anderen zugemacht, immer mehr Menschen verlassen die wenigen Städte und ziehen Richtung Moskau.
Alle Hoffnung konzentriert sich nun auf den Tourismus, der für wenig Geld vergleichsweise viele Arbeitsplätze verspricht. Pionier ist der Essener Reiseveranstalter Red Prince Nature, der für seine Idee, Teilnehmer in Projekten selbst die touristischen Strukturen mit aufbauen zu lassen, schnell russische Partner gefunden hat. „Wir haben hier eine völlig unberührte, ursprüngliche Natur und zugleich riesige ökologische Probleme“, sagt Geschäftsführer Ulrich Kreuzenbeck. Als erstes soll deshalb in der Nähe von Nikel ein Umweltzentrum entstehen, in dem dann Konzepte für sanften Tourismus entwickelt werden.
Erst Mitte der 50er-Jahre hatte die sowjetische Regierung die Schwesterstädte Nikel und Zapoljarnyj für die Bergleute und ihre Familien aus dem Taigaboden stampfen lassen, die die Nickel- und Eisenerzvorkommen der Region in einer der größten Tagebauanlagen der Welt erschließen und ausbeuten sollten. Die zuvor kaum bewohnte Region an der Barentssee, deren Häfen wegen des warmen Golfstroms selbst im kalten russischen Winter eisfrei bleiben, sollte das Zentrum der russischen Schwermetallindustrie werden.
Riesige schneebedeckte Abraumhalden säumen die Buckelpiste zwischen den beiden Städten. Über allem liegen beißende gelbe Schwaden. Viel ist hier nicht geblieben von der ohnehin nicht allzu üppigen Vegetation der Taigalandschaft. Im Umkreis von 20 Kilometern ist der frühere Wald, Fichten meist, aber auch Pappeln und Weiden, beinahe komplett verschwunden.
220.000 Tonnen Schwefeldioxid stoßen die hohen Schornsteine des Kombinats Nikel-Zapoljarnyj jährlich aus, fünfmal so viel, wie die gesamte skandinavische Industrie produziert. 300 Millionen Kronen hat die norwegische Regierung für Filteranlagen bereitgestellt. Aber das Geld gibt es nur, wenn die Russen noch mal so viel drauflegen. Daran ist jedoch nicht zu denken. Denn in der russischen Rangliste der am schlimmsten verseuchten Gebiete rangiert Nikel auf Platz 80.
Weit hinter der Küstenregion der Barentssee, wo die Sowjets von 1959 an flüssige und feste nukleare Abfälle einfach ins Meer gekippt haben. Behälter mit schwach radioaktivem Wasser, aber auch ganze Atomreaktoren, ganz zu schweigen von den versenkten Teilen der ehemals sowjetischen, jetzt russischen Atom-U-Boot-Flotte, die noch in den Basen der Kola-Halbinsel ankert. Den größten Anteil an der Strahlenbelastung haben nach aktuellsten Studien jedoch die Einleitungen aus den britischen Atomanlagen in Sellafield und Dounreay, die der Golfstrom bis hierher gespült hat.
Und dem privaten Konsortium, dem das Kombinat inzwischen gehört, ist jede zusätzliche Ausgabe für Umweltschutz zu viel.
Umweltschutz – ein nachrangiges Problem
Denn in spätestens acht Jahren wird das letzte Nickel ausgebuddelt sein. Der Versuch, Erz in den 80er-Jahren 5.000 Kilometer weit per Schiff und Lastwagen aus dem sibirischen Nowosibirsk heranzuschaffen, hat sich als Fehlschlag entpuppt – ökonomisch und ökologisch. Der Transport war zu teuer, das Erz extrem schwefelhaltig.
„Ohne das Erz wäre die Umgebung nicht so schwer verseucht“, sagt Vladimir Chichov, Umweltbeauftragter der Region Nikel. Bis die zerstörte Landschaft wieder hergestellt sei, werde es „mindestens 100 Jahre“ dauern. Und bei einem durchschnittlichen Familieneinkommen von rund 200 Mark sei es schwierig, ein ökologisches Bewusstsein zu schaffen. „Wenn man kein Geld fürs Essen oder fürs Heizen hat, ist Umweltschutz ein äußerst nachrangiges Problem“, sagt Chichovs Stellvertreterin Tatjana. Aber sie hofft auf die Kinder, die sich für kleine begrenzte Projekte, bei denen dann auch schon mal ein Erfolg sichtbar ist, begeistern lassen. Und auf das geplante Umweltzentrum. Mit den atomaren Problemen soll sich das Ministerium für Atomenergie befassen, das im vergangenen Jahr die Summe von 250 Millionen US-Dollar ins Spiel brachte, ohne die man nicht einmal die dringendsten Maßnahmen bis 2005 ergreifen könnte. „Wenn man sich erst einmal auf so etwas einlässt“, sagt sie, „muss man doch denken, man könne gar nichts tun.“
Das Umweltzentrum soll in der alten Schule im 40 Kilometer südlich gelegenen Prirechnyj entstehen, in dessen bunt gestrichenen Plattenbauten und einzelnen kleinen Häusern 2.000 Bergleute wohnten, so lange die nahe Mine Wostok in Betrieb war. Inzwischen sind die meisten weg. Außer bei der Post und in dem kleinen Lebensmittellladen gibt es keine Arbeit mehr. Seit auch die Schule geschlossen ist, haben die Familien mit Kindern den Ort verlassen. Geblieben sind die Rentner, die sich den Umzug nach Nikel oder noch weiter nicht leisten können. Oder die nicht weg wollen. Gerade mal 200 Frauen und Männer. „Wir sind schon so viel umgezogen“, sagt Ludmilla Kullikova, die Ortsvorsteherin. „Wir wollen einfach nicht mehr weg.“ Die Alten haben sich gewöhnt an nur vier eisfreie Monate im Jahr, an die Natur und den Wald um sie herum. Sie haben Kitsch und Nippes zusammengetragen, Lichterketten, bunte unverwüstbare Blumengestecke, Kissen mit Spitze umhäkelt, um ihre Vollkomfortwohnungen gemütlicher zu machen. Nun leben sie von durchschnittlich 600 Rubel, umgerechnet etwa 44 Mark, im Monat, das ist ein Siebtel dessen, was ein Arbeiter im Kombinat verdient. 300 würde allein die Miete kosten, wenn sie sie denn zahlten. „Um die Häuser kümmert sich ja auch keiner“, heißt es. Brot kostet 5 Rubel, eine Flasche Bier gibt’s ab 6 Rubel, Wodka für unwesentlich mehr – und er wärmt besser. Käse und Fleisch sind schon beinahe unerschwinglich, 50 Rubel muss man dafür hinlegen. „Zu tun gibt es genug“, sagt die Ortsvorsteherin.
Vor wenigen Wochen hat sich herausgestellt, dass das kleine Heizkraftwerk, das in einem der leeren Häuser untergebracht ist und den Ort von dem großen, ständig mit Abschaltung drohenden in Nikel unabhängig machen sollte, nicht ausreicht. Die alte Schule und andere, tiefer gelegene Häuser bleiben kalt und müssen mit Kohleöfen notdürftig beheizt werden. „Das ist ein echter Schlag“, so Kreuzenbeck. Aber kein Grund aufzugeben. Improvisieren ist man hier gewöhnt. Oder man lernt es ganz schnell. Als Red Prince Nature im Sommer eine Truppe junger Leute aus Deutschland herankarrte, die in einer ersten Stufe des Projekts die Gegend erkunden, Wege anlegen und das Schulgebäude zum Umweltzentrum umbauen sollten, mussten sie gleich zu Anfang die Entscheidung treffen: Bauen wir eine funktionierende Dusche oder ein funktionierendes Klo? Die Dusche gewann.
Information: Red Prince Nature, Frohnkamp 18, 40789 Monheim, Tel: (0800) 2 77 46 23
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