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Im Labyrinth der Systeme

Hätte Niklas Luhmann CD-ROMs schreiben sollen? Im digitalen Medium arrangiert sich’s leichter, wie eine Multimedia-CD zur Systemtheorie veranschaulicht ■ Von Niels Werber

Als eine Pyramide könnte man sich das Denkgebäude des Empirismus vorstellen: von der breiten Basis der gesammelten Einzeldaten gelangt man über Induktionen zu wenigen allgemeinen Thesen. Hegels Theorie entspräche vielleicht einem Turmbau, dessen teleologischer Plan erst von den Baumeistern der obersten Etage begriffen wird, obwohl auch alle vorher den Vorgaben des Weltgeistes bewusstlos gefolgt sind. Und die Systemtheorie? Niklas Luhmann hat das Bild eines Labyrinths vorgeschlagen und damit ein Unbehagen über das Medium der Theorie angedeutet. Zwar sei sein theoretisches Hauptwerk von 1984, die „Sozialen Systeme“, als Buch erschienen, das „in der Kapitelsequenz gelesen werden muss“, doch liege der Grund dafür nicht in der „Theorieform“, sondern allein in der Gestalt, die für Bücher nun einmal vorgesehen ist: der Linearität von Seite 7 bis Seite 661. Die Systemtheorie versteht sich aber als selbstbezügliche, rekursive Theorie, deren Begriffe und Annahmen aufeinander vor- und zurückverweisen und deren Entfaltung man daher nicht von einem grundsätzlichen Anfang zu einem „frohen Ende“ nacherzählen kann. Daher ist die für die „Sozialen Systeme“ gewählte „Kapitelfolge nicht die einzig mögliche“, merkt Luhmann an. Jeder Satz weist auf andere voraus und zurück. „Während die Theorie, was die Begriffsfassungen und die Aussagen inhaltlich angeht, sich wie von selbst geschrieben hat, haben Arrangierprobleme mich viel Zeit und viel Überlegung gekostet“, klagt Luhmann über die Restriktionen der Buchform. Man mag fast glauben, ihm wäre es am liebsten gewesen, die ganze Theorie in ihren Verästelungen und Schleifen mit einem Schlag auf die Welt zu bringen wie der Urknall das Universum. Schlagartig veranschaulicht die Startseite der CD-ROM „Systemtheorie verstehen“ von Theodor M. Bardmann (Texte) und Alexander Lambrecht (Design) die angesprochenen „Arrangierprobleme“: Zirkularität, Innen/Außen, Struktur, Methode, Parasit, Kontingenz, Medium/Form, Differenzierung, Beobachtung, Kommunikation, Zeit, Autopoiese und „unmarked space“ sind die Hyperlinks, die gleichberechtigt dazu einladen, den Einstieg in die Theorie zu wagen. Diese Simultanpräsenz vermeidet die Linearität des Buchs und die Suggestion einer Reihenfolge vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Einfachen zum Komplexen oder vom Vergangenen zum Aktuellen.

Dreizehn Eingänge hat das Labyrinth: aber nur einen können wir wählen. Ganz wie George Spencer Brown es lehrt, muss der Beobachter mit einer Unterscheidung beginnen: diesen und nicht die anderen. Wählen wir die Kommunikation: Auch die Benutzeroberfläche „hinter“ diesem Hyperlink präsentiert wieder eine Fülle weiterer Links. Die Komplexität nimmt zu – manche verweisen auf Konzepte weiter, mit denen Kommunikation erklärt werden kann: Information, Mitteilung, Verstehen; manche auf Fragen, die mit dem Kommunikationsbegriff zu klären sind: etwa die Beschreibung der Kommunikation als Handlung durch die Zurechnung eines Beobachters, (nicht aber auf Gesellschaft, obwohl diese aus Kommunikationen besteht); mancher Hyperlink führt weiter zu Theorieelementen, die ihrerseits auf den Kommunikationsbegriff anwendbar sind: wie Zeit oder Zirkularität; und einer, der Hyperlink mit dem auffallendsten Layout, verweist auf die Erklärung des Begriffs selbst.

Hier, auf der dritten Ebene des Hypertextes, führt ein Fließtext in die Begriffsgeschichte ein und kommt schließlich zum autopoietischen Konzept der Kommunikation. Was diesem Zeitungsartikel unmöglich ist, gelingt der CD: Die im Fließtext verwendeten Termini sind „highlighted“, und wenn man sie mit der Maus antippt, dann erscheint ein kleines Feld mit einer prägnanten Erklärung, mit der man so lange vorlieb nehmen kann, bis man den ausführlichen Artikel dazu liest. Zur Autopoiesis erfährt man beispielsweise: „Die Hervorbringung aller Elemente, die zur Hervorbringung eines Netzwerkes nötig sind, das alle Elemente, die zu seiner Hervorbringung nötig sind, selbst hervorbringt.“ Wem das nicht reicht, kann ein zweites Fenster öffnen, um mehr darüber zu erfahren.

Durch das mehrdimensionale Netzwerk der Systemtheorie kann man nicht nur von Hyperlink zu Hyperlink surfen. Eine Menüleiste bietet die wichtigsten Begriffe von A wie Abbildungstheorie bis Z wie Zwei-Seiten-Form. Aus dem Labyrinth heraus kann man dort Artikel abrufen, die für Orientierung sorgen, wenn man auf der Ebene der Details der dritten Ebene den Überblick zu verlieren meint: Was war noch gerade ein System? „Ein geordneter Zusammenhang von Elementen, die sich durch Grenzziehung von einer dazugehörigen Umwelt unterscheiden ...“ Ach so! Zitate aus dem Schrifttum einschlägiger Gelehrter von Dirk Baecker bis Michel Serres und immer wieder Luhmanns bereichern die Erläuterungen Bardmanns. Von den Zitaten führen Hyperlinks direkt ins Literaturverzeichnis.

Wer nun hofft, hier könne man sich mit den „copy“- und „paste“-Befehlen alles gleich in die eigene Arbeit hineinsampeln, den muss ich enttäuschen. Zwar gibt es eine Ausdruckfunktion für die Fließtexte, doch muss jedes Zitat mühselig abgeschrieben werden. Auch das CD-ROMs so auszeichnende Mittel der Volltextsuche fehlt, mit der sich nach Themen wie Liebe oder Wirtschaft oder Namen wie Parsons oder Kant suchen ließe. Womit wir bei den Mängeln angelangt wären:

Sie wollen die „Systemtheorie verstehen“? Nun: „Verstehen ist die Einheit der Unterscheidung von Mitteilung und Information.“ Mitteilung ist „die Anschlussstelle für Verstehen, die auf den Mitteilenden verweist“, Information dagegen „die Anschlussstelle für Verstehen, die auf den Inhalt einer Mitteilung verweist“. Verstanden? Wenn nicht, holen Sie sich einen Nachschlag: „Information ist ein Unterschied, der einen Unterschied macht.“

Macht dies einen Unterschied für Sie?

Luhmann dagegen hat Beispiele von geradezu erhabener Einfachheit bemüht, um der Komplexität seiner Theorie im Alltäglichen Halt zu verleihen. Was Attribution bedeutet, erklärt Luhmann am Beispiel der Autofahrt mit Beifahrer. Der Fahrer des Wagens glaubt, sein Handeln auf die Situation abzustellen: Tempo, Verkehrsdichte, Straßenlage; der Beifahrer dagegen „rechnet die Eigentümlichkeit der Fahrweise auf Personenmerkmale zu und fühlt sich, wenn die Person ihm wichtig ist und er Rücksichtnahmen erwarten zu können glaubt, veranlasst, zu kommentieren und mitzuteilen, wie er selbst fahren würde“. Der Fahrer glaubt, ganz sachlich im Kontext der Situation zu handeln, der Beifahrer dagegen bezieht die Situation auf die Person des Fahrers. Nicht der Verkehr, der Fahrer ist dann schuld am Unbehagen des Beifahrers. „So werden Ehen im Himmel geschlossen, und im Auto gehen sie auseinander.“ Vielleicht ahnt man jetzt, was es bedeutet, dass viele vermeintliche Sachverhalte sich als Zurechnungen eines Beobachters erweisen können und es daher offensichtlich auf dessen Standpunkt ankommt. Wer das weiß, kann die Scheidung vielleicht vermeiden.

Systemtheorie kann anschaulich gemacht werden – doch reicht es dazu nicht, sehr abstrakt formulierte Textsequenzen durch Hyperlinks zu vernetzen und mit Kurzdefinitionen zu garnieren. Als Lernsoftware für den Einsteiger eignet sich die CD kaum, erst den Fortgeschrittenen wird sich das Labyrinth der Theorie so erschließen, dass ein Grad des Verstehens nahe kommt, das der ausdauernde Leser der systemtheoretischen Bücher „zum guten Ende“ erreicht. Für die Unvermeidlichkeit des Textes im Hypertext wird man ein wenig von den Videosequenzen entschädigt, auf denen sich die Experten zu Wort melden, und – wie es sich für Interviews gehört – zu einer Prägnanz und Anschaulichkeit finden, die den verlinkten Texten oft fehlt. Im Quick-Time-Format wird Luhmanns Denken wirklich lebendig.Theodor M. Bardmann, Alexander Lambrecht: „Systemtheorie verstehen“. CD-ROM mit Lehrbuch. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 1999, 99 DM

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