: Heimat auf Schienen
Der aus der Bukowina stammende Autor Aharon Appelfeld gilt in Israel, seiner heutigen Heimat, als „Kafka nach der Shoah“. Seine Romane sind angesiedelt im Krieg, im Lager, in den Wäldern und in der Zeit vor dem Krieg. Appelfeld erzählt dabei nie vom Schrecklichen; seine Figuren sind jedoch vom Grauen durchtränkt, das langsam in den Leser eindringt. Tatsächlich handeln seine Geschichten untergründig von der Suche nach Heimat, nach Zugehörigkeit. Sie erinnern an Hannah Arendts Satz: „Wohl dem, der keine Heimat hat, er sieht sie noch im Traum.“Von Marie Luise Knott
Wenn ich ein Filmemacher wäre“, schrieb der Literaturkritiker Stephen Moss 1997 im britischen Guardian, „würde ich mir auf der Stelle eine Option auf die Kindheitsgeschichte von Aharon Appelfeld besorgen. Die einzige Angst, die ich dabei hätte, wäre die, dass mir niemand die Geschichte glauben würde.“
Dabei beginnt Aharon Appelfelds unglaubliche Lebensgeschichte ganz glaublich: als Erwin Appelfeld wurde er 1932 in Jadowa, in der Bukowina, geboren, in jenem Landstrich, der bis 1918 als selbstständiges Kronland zu Österreich-Ungarn gehörte, dann an Rumänien fiel. In dem Völkergemisch aus Ruthenen, Deutschen, Rumänen und Polen stellten die Juden die Mehrheitskultur, von hier stammen bedeutende deutschsprachige jüdische Schriftsteller, unter ihnen Rose Ausländer, Paul Celan, Immanuel Weissglas. Appelfeld wuchs als einziges Kind einer assimilierten Kaufmannsfamilie in dem Dorf Drajinetz in der Nähe Czernowitz auf – es muss eine schöne Kindheit gewesen sein, die durch die 1940 (nach dem Hitler-Stalin-Pakt) einrückenden sowjetischen Truppen nicht in ihren Grundfesten erschüttert wurde.
Als im Juni 1941 die Deutschen in die Bukowina einfielen, ermordeten sie unter Beihilfe der Einheimischen die im Dorf lebenden Juden: Vor Erwins Augen starben seine Mutter und Großmutter, er selber floh mit seinem Vater ins Ghetto von Czernowitz. Von dort brachten die Deutschen sie in ein Arbeitslager in Transnistrien, wo er von seinem Vater getrennt wurde. Ihm selber gelang nach wenigen Wochen die Flucht durch einen Tunnel in die Wälder. Er war zehn Jahre alt und auf das Waldleben gänzlich unvorbereitet – schutzlos und unschuldig.
So schlug er sich durch, ähnlich wie die Hauptperson in seinem Roman „Tzili“: unter Prostituierten, Verbrechern, anderen Außenseitern. Er war blond, konnte seine jüdische Herkunft verleugnen und überlebte, bis die Rote Armee seinen „Wald“ befreite. Als Küchenjunge rückte er mit einer Einheit der Roten Armee bis nach Jugoslawien vor. „Ich habe kaum etwas über den Krieg geschrieben. Im Krieg schrumpft der Körper, und die Seele schwindet. Hunger und Kälte beherrschen dich und du hast nur einen Wunsch: So schnell als möglich zu sterben.“
Das Kriegsende erlebte der nunmehr Dreizehnjährige in Italien, wo ihn Mönche in klösterliche Obhut nahmen. Er floh, stieß auf eine der wenigen jüdischen Brigaden, die unter britischer Hoheit für kurze Zeit in Italien eingesetzt waren und gelangte über diese Verbindung schließlich 1946 illegal nach Palästina. Bei seiner Ankunft wurde er von den Briten sogleich interniert, doch er konnte bleiben.
Wohin hätte er auch sollen? Die damals in Palästina ansässigen Juden waren eine verschworene Überlebensgemeinschaft, nur auf die eigenen Kräfte vertrauend und voller Abwehr. Mitleid und Offenheit waren nicht üblich. Doch die Einwanderer waren willkommen, zuallererst als Helfer und als Mehrheitshersteller gegenüber der arabischen Bevölkerung. Es galt, den jüdischen Staat aufzubauen!
Die Einsamkeit eines der Sprache und der Schrift kaum mächtigen Heranwachsenden, der aus dem einen Krieg in den nächsten gerät – denn im Jahr 1948 herrschte in Israel Krieg –, trieb ihn zum Schreiben. Die Sprache war wie das Land: fremd und kalt. Doch Appelfeld schrieb trotzdem auf Hebräisch, zunächst Tagebuch, später Prosa.
Schon früh entwickelte Appelfeld das, was heute seine Kunst ist und ihm in Israel die Bezeichnung „Kafka nach der Shoah“ eingebracht hat: Der erinnerte Schrecken wird nicht berichtet. Die Figuren und Konstellationen in seinen Romanen kommen ganz alltäglich daher und sind doch unter der Oberfläche vom Grauen durchtränkt, das auf diese Weise langsam in den Leser eindringt.
Zwischen 1961 und 1971 erschienen mehrere Bände mit Kurzgeschichten, sie spielen in Israel und erzählen vom Sichdurchschlagen der Neuankömmlinge: „Zunächst einmal war das, was ich schrieb, ein Aufschrei. Ich schrieb über Immigranten, die nach Israel kamen. Ich schrieb über Einsamkeit, und das war schwer zu veröffentlichen. Denn damals, Ende der Fünfzigerjahre, war Israel ein sehr ideologisches Land.“
Israel, eine Gesellschaft, die sich um des Überlebens willen glaubt uniformieren zu müssen, eine Gesellschaft auf der Suche nach einer Identität in einer feindlichen Umgebung. „MeinVerleger sagte: ‚Ja Mr. Appelfeld, wir sehen, dass Sie Talent haben. Aber Ihre Bücher sollten eine erzieherische Aufgabe haben. Sie sollten über positive Figuren schreiben, nicht über negative.‘“ Seine Immigranten aber verbrachten die Tage schlafend am Strand, nachts schmuggelten sie. Appelfeld wurde von seinem Verleger gefragt: Warum? Schließlich sei Israel kein Camp, niemand brauche zu schmuggeln.
Heute nennt Appelfeld das, worüber er damals geschrieben hat, „heißen Stoff“. Einen Stoff also, der durch aktuelles, äußeres Geschehen dramatisiert wird. Später, als er begann, über den Krieg und die Vorkriegszeit zu schreiben, legte er sich einen Filter zu, er entrückte sich seinen autobiografischen Stoff. Der Schrecken war unsagbar, das Geschehene für Nichtbeteiligte unglaubwürdig. Er musste die übermächtige Kraft der Erinnerung bändigen. Wie aber verwandelt sich das Erlebte von realer Erinnerung in Literatur?
„In dem Roman ‚Tzili‘ wollte ich über mein Überleben im Wald schreiben, und es wurde ein ganz schlechtes Buch. Denn Kreativität braucht die Totalität des Schreibers. Die Gesamtheit von Imagination, Erinnerung, Gefühle, Sinne, alles. Und als ich etwas schreiben wollte, das mir wirklich widerfahren war, arbeitete ich nur mit einem Teil von mir: Mit der Erinnerung. Es misslang. Erst als ich mir eine fremde Person erfand, ein Mädchen, das ein wenig älter war als ich, konnte ich all mein Denken und Fühlen entfalten.“
Jede Erinnerung besitze automatisch eigene „innere Zwänge“, weshalb sie nach Appelfelds Meinung nicht zur Literatur durchdringe. Die Kraft zum Überleben (nicht nur in den Wäldern, sondern auch in den ersten Jahren in Israel) schöpfte Appelfeld aus den schönen Erinnerungen an seine Kindheit, die in all seinen Romanen durchschimmern: Erinnerungen an Vater, Mutter, Großeltern, an deren Hoffnungen und an all das, was sie ihm, dem Jungen, mitgaben. Doch die Erinnerungen sind vergiftet, sind „schwarze Milch der Frühe“, wie es bei Paul Celan heißt.
Appelfeld studierte Literatur und Judentum. Schreibend grub er nach seinem „wahren Öl“, das er unterhalb der Wirklichkeitsschicht vermutete. „Er ist ein ortloser, ein deportierter, besitzloser, wurzelloser Autor“, konstatiert Philip Roth. Seine Sprache ist aller kulturellen Anbindungen entkleidet, weder werden Bilder geschaffen, die ihn an seine erste Heimat (Osteuropa) zurückbinden, noch scheint der heutige Zustand der Gesellschaft in Israel auf, nur hier und da werden alttestamentarische Bilder heraufbeschworen. Seine Texte sind von irritierender Enthaltsamkeit. Auch wenn sie meist einen Ablauf vorgeben, gibt es in ihnen kaum ein Verstehen oder Erklärungen.
Die Orte in seinen Romanen sind fiktiv, bei den Entwürfen haben die nebulösen Kindheitserinnerungen an Czernovitz (die Stadt), und Drajinitz (das Dorf) Pate gestanden. Appelfeld überprüft nicht, er reibt sich nicht an der Wirklichkeit, sondern stattet seine Figuren, richtiger: seine Konstellationen, mit fiktiven, meist nur konturhaft entworfenen Räumen aus. Dies mag (auch) daran liegen, dass Appelfeld bis 1997 nie in seine Heimat zurückkehrte: „Jahrzehnte träumte ich davon, aber ich tat es nicht, denn nach dem Krieg gehörte die Gegend zur Sowjetunion, und als israelischer Staatsbürger hatte ich kein Recht einzureisen.“
Im Unterschied zu den Orten ist die Zeit, in welcher seine Romane spielen, meist klar definiert und oft sogar konstitutiv für die Geschichte. „Tzili“ etwa spielt 1943/44 in den Wäldern; „Badenheim“ in einem imaginären österreichischen Kurort 1939 unmittelbar vor Kriegsausbruch; „Für alle Sünden“ im Frühjahr 1945. Der soeben auf Deutsch erschienene Roman „Der eiserne Pfad“ spielt Ende der Achtzigerjahre in den Bergen, in dem real nicht existenten Orten namens Obersalzheim, Hochstaufenheim. Immer wiederkehrendes Thema seiner Romane ist die verführerische wie zerstörerische Kraft der Assimilation: der Wunsch, dem Jüdischsein entrinnen zu können. Folge dieses Wunsches ist der Verrat am eigenen Volke und eine irrige Liebe zur deutschen Kultur.
„Auschwitz hat sehr wohl etwas mit der jüdischen Geschichte zu tun: Ich erzähle Ihnen das Beispiel meiner Eltern. Sie waren so tief in der deutschen Kultur verwurzelt, dass sie sich nicht vorstellen konnten, dass Deutsche unsere Familie in einen Zug pferchen und in ein Vernichtungslager bringen konnten. Es war eine Idealisierung, man fühlte sich verbunden, ja zugehörig – zu Thomas Mann, Kant, Beethoven, Bach. Die Deutschen waren einfach gut. Als sie uns sagten: ‚Kommen Sie, nehmen Sie ihre Habseligkeiten, wir bringen Sie nur in ein anderes Stadtviertel!‘, haben wir ihnen geglaubt. Und als sie sagten, ‚Kommen Sie mit zum Bahnhof, wir transportieren Sie an einen Ort im Osten!‘, haben wir ihnen wieder geglaubt. Dieses völlige Vertrauen – das ist ein jüdisches Phänomen.“
Und dann erzählt er, dass Alexander Solschenizyn ihm eines Tages eine Erklärung gab: Diese ewige Unschuld der Juden, erläuterte ihm der russische Schriftsteller, rühre daher, dass die Juden sich nie dem Boden, einem Fleck Erde zugehörig gefühlt hätten. Sie haben nie einen Instinkt dafür gehabt, dass ihre Mörder kamen. Wir Russen, so Solschenizyn, wussten, dass jeder Mensch ein Biest in sich hat. Wir wussten, dass wir den Deutschen nicht trauen konnten.
Die Juden aber trauten, vertrauten, eine „einseitige Liebe“ (Gershom Scholem). „Ihre Bewunderung und ihre Unschuld, oder sollte man sagen: ihre Dummheit ging so weit, dass selbst im Osten, in Czernowitz im Ghetto, noch regelmäßig Lesungen deutscher Dichter stattfanden“, so Appelfeld.
Die Assimilation als Hoffnung, Lebenselixier und letztlich tödliche Illusion der eigenen, dahingemordeten Eltern ist zentrales Thema in dem Appelfeldschen Romanwerk. Im Mittelpunkt von „Conversion“ steht ein Jude, der, um sein wissenschaftliches Fortkommen zu sichern, zum Katholizismus konvertiert. In „Badenheim“ wie in vielen anderen Romanen stehen Assimilierte, Parvenus und Pariajuden einander gegenüber.
Wie bei Johann Sebastian Bach sind die Romane fugal miteinander verwoben. Neben dem Leitmotiv der Assimilation werden kleinere und größere Lebensmelodien durchgearbeitet: die rastlose Getriebenheit des ewigen Juden und ihr Pendant, der endlose Schlaf der Depression; die Heimatlosigkeit ebenso wie der Verlust des Glaubens (der Heinrich Heine einst als „portable Heimat“ galt). Es gibt die Auflösung der Familien, die Trennung der Eltern, die Haltlosigkeit der Menschen, die Sehnsucht nach dem unmöglichen Vergessen und dem unmöglichen Neuanfang und immer wieder: die Zigarette, die schon der ersten Erzählung („Rauch“) den Titel gab. Die Zigaretten, jene Einheitswährung des Lagers, welche Lust und Verlust, Befriedigung und Verglühen (Vergänglichkeit) symbolisiert.
Die Paradoxien jüdischen Daseins nach der Judenvernichtung durchtränken seine Figuren: „Seit wir die Vorräte gefunden haben, sind wir ausgeliefert“, sagt ein Flüchtling (in „Für alle Sünden“), der soeben dem Hungertod im Lager entronnen ist. In dem jüngst auf Deutsch erschienenen Roman „Der eiserne Pfad“ sind es Sätze wie „Züge machen mich frei“ oder: „Andere Menschen besitzen Villen, Geschäfte und Lagerhäuser. Mir gehört ein ganzer Kontinent. In den entlegensten Ecken bin ich zu Hause.“ Sätze einer unauflösbaren Einsamkeit, die durch die Entindividualisierung weit über den Erfahrungshorizont des jüdischen Protagonisten hinausweisen.
„Der eiserne Pfad“, das ist die Eisenbahn und außerdem der eisern geschiente Weg, dem sein Protagonist, der Antiquitätenhändler Erwin Siegelbaum, ein Überlebender der Judenvernichtung, aus einem inneren Zwang heraus folgen muss. Vorwärtsgetrieben von seinen Ängsten, auf der Flucht vor seinen Erinnerungen, ist er immer unterwegs, auf der Bahn und in Hotels. Jahr für Jahr beginnt er seine im Wesentlichen immer gleiche Rundreise am Tage und Orte seiner „Wiedergeburt“, in Wirblbahn nämlich, wo er am 27. März 1945 aus der Dunkelheit eines Todestransports befreit wurde. Hier beginnt der heimatlose Jude Siegelbaum in dem Roman an einem 27. März am Ende der Achtzigerjahre seine Rundreise.
Eiserner Pfad“ ist eigentlich die wörtliche Übersetzung des hebräischen Wortes für „Eisenbahn“. Siegelbaums eiserner Pfad besteht aus zwei Strängen: Der erste Strang, dem das Ich folgt, ist durch Siegelbaums Tätigkeit ausgelegt; der Icherzähler ist ein Reisender in Sachen Antiquitäten. Auf abgelegenen Trödelmärkten, auf Böden, in Scheunen alter Bauernhöfe sucht er nach alten hebräischen Handschriften, siebenarmigen Leuchtern und anderen Kultgegenständen.
Diese Suche hat im Roman zunächst symbolische Bedeutung. Wenn es für ihn, den Überlebenden, nur noch eine „Schienenheimat“ gibt, wenn in diesem zentraleuropäischen Landstrich heute kaum ein jüdischer Überlebender anzutreffen ist, dann will er zumindest die überlebenden Gegenstände retten. Die bedeutendsten Funde verkauft er nach Israel.
Doch auch die überlebenden Gegenstände werden immer weniger – wie ihre menschlichen Pendants. „Schienen machen mich glücklich“, sagt er einmal. Doch längst hat sich die zurechtgelegte „Schienenheimat“ als Illusion erwiesen: Die Menschen – Pensionswirtinnen, Kneipiers, Speisewagenkellner und Taxifahrer –, mit denen er auch Momente der Ruhe, der Nähe und des Glücks erlebt hat, haben ihm keinen Halt in der Welt beschert. Kaum dass Nähe aufkam, kaum dass Vertrauen als Möglichkeit aufschien, löste sich die jeweilige Beziehung auf. Alle Menschen, denen er begegnet, sind von der Geschichte infiziert; die einen erweisen sich als Antisemiten und Mörder, die anderen, seine Lieben, werden, wie er selber, von inneren Zwängen und Ängsten zerfressen. Es gibt nur kurze Momente der Linderung – in Musik, Essen und gelegentlichem Beisammensein.
Der zweite Strang des „eisernen Pfades“ folgt dem inneren Auftrag, den Mörder seiner Eltern zu finden und deren Tod zu rächen. Wann immer der Icherzähler in Depression zu versinken droht, weist der Auftrag ihm seinen Weg: Er soll und wird den Mörder finden – und töten. Hier weiß er sich einig mit den jüdischen Kommunisten, die Siegelbaum unterwegs trifft oder aufsucht. Sie sind die letzten Boten aus der Welt seiner Eltern, und sie repräsentieren die Hoffnung auf eine bessere Welt; sie allein besitzen die Willenskraft, „den Wall des Lebens zu festigen“.
Der Mörder, den Siegelbaum schließlich findet, ist ein armseliger alter Mann, der – genau wie die Juden – von Heimatlosigkeit und Einsamkeit erzählt. Am Ende erschießt ihn Siegelbaum trotzdem, gerade als dieser in einer Kanne weiße Milch holen gehen will – jedoch nicht von vorne, wie einen Gegner, sondern von hinten, wie einen Flüchtenden.
Die Protagonisten sind von Beginn an unausweichlich in die Konstellation verstrickt, die dem Roman seine Form und Sprache gibt. Der Antiquitätenhändler übt Rache, doch nicht um der eigenen Genugtuung willen. Der Mord hat nichts Erlösendes, nichts Wiedergutmachendes. „Mein Kopf ist leer“, sagt Siegelbaum nach der Tat. Und: „Sicher, den Mord hatte ich mir anders vorgestellt. Ich war überzeugt gewesen, dass ich kurz darauf selber umkommen, zumindest festgenommen würde. Ich hatte mir vorgestellt, von wütenden Menschen durch die Straßen geschleift zu werden, bis mein letzter Tropfen Blut verronnen war. Die Tatsache, dass ich lebte, in einem Zug saß und eine Scheibe Toast mit Butter bestrich, ließ ein ungewohntes Gefühl der Sicherheit in mir aufkeimen.“ Siegelbaum wird klar, dass er sein gewohntes Leben wieder wird aufnehmen können, als sei nichts gewesen. Der Mord, genauso wie der Mord der Nazis an den Juden, wird ungerächt bleiben.Hier zeigt sich Appelfelds Kunst: Auch wenn er nicht vom Schrecklichen redet – es ist da, und es dringt nicht nur in den Leser, sondern auch in den Protagonisten ein, denn nach der Tat, am Ende der Geschichte, ist Siegelbaum wieder im Zug, auf dem Weg nach Wirblbahn, doch nicht, um seine Jahresreise anzutreten. Sein Leben ist ausgebrannt, aufgelöst die beiden Stränge seines eisernen Pfades. Der Ort seiner Wiedergeburt muss vernichtet werden, denn er kann mit sich als Mörder nicht zusammenleben und nicht in einer Welt, die mit Mördern lebt. So imaginiert er einen (verspäteten) Amoklauf.
Der Roman „Der eiserne Pfad“, 1991 in Israel erschienen, erzählt mit scheinbar unbeteiligter Lakonie einen höchst dramatischen Stoff: vom Nicht- und Doch-Überleben-Können und vom Weltverlust. Längst hat sich Appelfeld in die Annalen der Erinnerungsliteratur eingeschrieben, doch anders als viele Erinnerungsromane sperren sich seine Werke gegen jede Mystifizierung. Die Tragik ist entrückt, die sprachlichen Mittel suggerieren Normalität, und zwar gerade in jenen Momenten, da es um den äußersten Weltverlust des Helden geht. Es ist eine besondere Leistung der Übersetzung, diese fiktive Normalität zu vermitteln, ohne dem Tragischen irgendetwas von seinem Schrecken genommen zu haben.
Der jüdische Schrifsteller Franz Kafka berichtete Max Brod eines Tages ergriffen eine Anekdote von Gustave Flaubert, der, von einem Besuch bei einer einfachen, glücklichen, kinderreichen Familie zurückkehrend, gesagt haben soll: „Ils sont dans le vrai!“ Im Wahren also, das fern und doch so einfach ist und Heimat wäre, wenn es sie denn gäbe. Wobei Appelfeld wie Flaubert das Wahre nicht im Besonderen, im Individuellen vermuten, sondern in der Zugehörigkeit (etwa zu Israel), die in Appelfelds Romanen als – rettendes – Verdikt aufscheint.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen