: Österreich muss an den Start zurück
Der Versuch der Neuauflage der großen Koalition platzt 110 Tage nach der Wahl. Die Sozialdemokraten wollenjetzt eine Minderheitsregierung bilden, doch der Bundespräsident zögert noch ■ Aus Wien Ralf Leonhard
Um 5 Uhr früh hat der Bundeskanzler und SPÖ-Chef Viktor Klima gestern die bereits erwartete Nachricht verkündet: Das SPÖ-Präsidium lehnt die Bedingungen der Christdemokraten ab. Es gibt keine Koalition. 110 Tage nach den Nationalratswahlen vom 3. Oktober ist noch immer unklar, wer Österreich regieren wird. Der vom Verhandlungsstress der letzten Tage und Nächte gezeichnete Klima war hörbar erleichtert, als er der Presse verkündete, er werde dem Bundespräsidenten eine Minderheitsregierung unter Einschluss von Technokraten vorschlagen.
Klestil will von Minderheitsregierung aber noch nichts wissen. Er gab Klima zunächst eine weitere Woche Zeit, „um mit allen Chefs der im Parlament vertretenen Parteien Gespräche aufzunehmen, um alle Möglichkeiten einer Regierungsbildung zu prüfen“. Die Frist, so meinen Kommentatoren, soll die Emotionen abkühlen. Nach allem, was passiert ist, sei eine Versöhnung mit der ÖVP nicht zu erwarten. Auch eine Abkehr von der schon im Wahlkampf immer wieder strapazierten Parole „Mit Haider nie“ würde Klima politisch nicht überleben. Und die 14 Abgeordneten der Grünen schaffen keine Mehrheit. Damit bleiben als realistische Optionen nur eine sozialdemokratische Minderheitsregierung unter Einschluss parteiunabhängiger Experten oder Klestils Zustimmung dafür, dass endlich zusammenwächst, was zusammengehört: ÖVP und FPÖ. Beide liegen in so wichtigen Bereichen wie der Sicherheits- und der Familienpolitik eng zusammen. Rechtspopulist Jörg Haider, der trotz zu erwartender Gewinne für seine FPÖ keine Neuwahlen anstrebt, ließ aus Kärnten seine Bereitschaft zur Regierungsbeteiligung vernehmen: „Wir stehen Gewehr bei Fuß.“
Das umstrittene Koalitionspaket, das sowohl in der SPÖ-Basis als auch bei den ÖVP-Beamten auf Widerstand stieß, hatten die Vorstände beider Parteien noch Zähne knirschend hingenommen. Doch der Streit um den Posten des Finanzministers brachte die Verhärtung der Fronten erst so recht zum Ausdruck. Als Noch-Finanzminister Edlinger als Kompromiss einen ÖVP-Staatssekretär mit Zuständigkeit für das Budget angeboten bekam, enthüllte er, wie die um eine Koalition ringenden beiden Parteien wirklich zueinander stehen: „Ich würde eher meinen Hund auf meine Wurst aufpassen lassen als die ÖVP auf das Geld der Steuerzahler.“ Der SPÖ reichte auch nicht, dass Wirtschaftsminister Hannes Farnleitner seinen Abschied aus der Politik ankündigte und damit sein Ressort im Tausch zur Verfügung stellte. Auch der Vorschlag von Wolfgang Schüssel, das Finanzressort einem parteilosen Experten anzuvertrauen, kam als Versöhnungsvorschlag zu spät. Die ÖVP wird also voraussichtlich die Oppositionsrolle bekommen, die sie seit Bekanntgabe des Wahlergebnisses angeblich anstrebt.
Nach einer Unterredung mit dem Bundespräsidenten verkündete Schüssel gestern, er habe kein Angebot von Haider, sein Angebot an die SPÖ stehe nach wie vor. Eine Minderheitsregierung werde die ÖVP aber nicht tolerieren.
Für die Minderheitsregierung gibt es einen Präzedenzfall, der allerdings unter ganz anderen Vorzeichen stattfand. 1970 hatte Bruno Kreisky mit 48,4 Prozent die absolute Mehrheit nur knapp verfehlt. Die fehlenden Stimmen im Parlament sicherte er sich durch die Zusage einer minderheitenfreundlichen Wahlrechtsreform an die FPÖ, die damals sechs Mandate hatte. Nach eineinhalb Jahren erreichte die SPÖ dann wieder die absolute Mehrheit.
Im Gegensatz dazu hat Klima schlechte Karten. Der Politologe Fritz Plasser gibt einer Minderheitsregierung nur eine Chance, wenn die SPÖ den mit der ÖVP vereinbarten Koalitionspakt als Regierungsprogramm präsentiert: „Wenn die ÖVP dann dagegen stimmt, würde sie in der Öffentlichkeit eine klar obstruktive Rolle einnehmen.“ Mit einem klaren sozialdemokratischen Programm anzutreten, böte die Möglichkeit für einen schönen Tod: „Für den Bundeskanzler wäre es ein heroischer Untergang mit wehenden Fahnen.“ Diese Variante zieht ein großer Teil der Basis vor.
Kommentar Seite 12
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