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„Wir leben doch noch!“

In Polen stößt die Debatte um das Mahnmal für die ermordeten Juden auf Unverständnis. Die Überlebenden fordern mehr Unterstützung

Warschau (taz) – In Polen gibt es kein zentrales Holocaust-Mahnmal. Schließlich liegen hier sämtliche Vernichtungslager der Nazis: Auschwitz, Treblinka, Majdanek . . . In Warschau erinnert ein Denkmal an den großen Ghettoaufstand 1943. Ein zweites gemahnt an den Warschauer Aufstand 1944. Und die gesamte Altstadt ist eigentlich auch ein Denkmal, denn sie ist erst fünfzig Jahre alt. Die Nazis hatten die Stadt gegen Ende des Krieges gesprengt – Straße für Straße, Haus für Haus. Einen Teil der Stadt bauten die Polen nach dem Krieg wieder auf.

Dass nun, fünfzig Jahre nach Kriegsende, in Berlin ein Denkmal für die ermordeten Juden Europas enstehen soll, findet in Polen kaum jemand weiter erwähnens- oder gar lobenswert. Im Gegenteil, wenn einmal das Gespräch darauf kommt, dann nur im Zusammenhang mit der jahrelangen Weigerung Deutschlands, die noch lebenden Opfer in Osteuropa anzuerkennen.

Jakub Gutenbaum vom Verein der Kinder des Holocaust ist besonders verbittert: „Wie können die Deutschen ein Denkmal für die ermordeten Juden Europas aufstellen, uns aber, die noch lebenden Holocaust-Opfer, dabei vergessen?“ Er müsse regelmäßig etwa bei Stiftungen betteln gehen, um die psychologische Betreuung der Kinder des Holocaust sicherzustellen. „Warum bauen sich die Deutschen jetzt ein Denkmal für die toten Juden? Warum helfen sie nicht den überlebenden Opfern?“

Die Deutschen geben viel Geld aus, um das ehemalige KZ Auschwitz zu erhalten. Demnächst soll mit 10 Millionen Mark der Stacheldrahtzaun erneuert werden. Die ehemaligen Häftlinge von Auschwitz, die noch heute in Polen leben, können diesen Totenkult in Berlin und Auschwitz nicht verstehen und die jahrelange Diskussion um das „richtige“ Erinnern an den Holocaust schon gar nicht. „Wir sind alt“, sagt Arnold Mostowicz, Vorsitzender des Verbandes der jüdischen Veteranen in Polen. „Da kehren die Erinnerungen an die Jugend zurück, an den Horror im Ghetto und KZ. Aber die Deutschen tun nichts, um unsere Not zu lindern. Stattdessen gönnen sie sich ein pompöses Denkmal.“

Und die Christen unter den ehemaligen Auschwitz-Häftlingen verstehen nicht, warum die Deutschen sich nur an die toten Juden erinnern wollen. Nicht nur auf dem Denkmal wird ihrer nicht gedacht, sie empfinden die Demütigung jeden Monat neu. Während nämlich die Juden unter den ehemaligen Häftlingen seit rund einem Jahr eine monatliche Rente von 250 Mark vom deutschen Staat erhalten, bekommen sie nicht einen Pfennig.

Gabriele Lesser

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