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„Die Unabhängigkeit der Richter ist gefährdet“

Der Münchener Rechtsanwalt Sieghart Ott warnt vor Druck auf die Berliner Verwaltungsrichter

taz: Die Berliner Verwaltung sucht Gespräche mit hiesigen Verwaltungsrichtern, ob das Versammlungsrecht in der Hauptstadt ähnlich freizügig ausgelegt werden kann wie auf dem platten Land: Wird durch diese Gespräche bereits die Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt?

Sieghart Ott: Die sehe ich tatsächlich dadurch schon beeinträchtigt. Die Richter müssen der Verfassung nach unabhängig sein. Ihre Unabhängigkeit sehe ich nach solchen Gesprächen schon als gefährdet an. Richter dürfen in solche Absprachen nicht einbezogen werden.

Gibt es bundesweit eine Tendenz, das Versammlungsrecht immer mehr einzuschränken?

Das ist mir nicht bekannt. Umso mehr und auf jeden Fall muss dieser Versuch der Berliner Innenverwaltung, hier Druck auszuüben, verurteilt werden. Die Gewaltenteilung zwischen rechtsprechender und ausführender Gewalt muss peinlich genau beachtet werden.

Die Innenverwaltung argumentiert: Der einschlägige Karlsruher Brokdorf-Beschluss, nach dem die Wünsche der Demo-Veranstalter nach Ort und Zeit der Kundgebung möglichst zu erfüllen sind, sei in der Großstadt Berlin nur schwer übertragbar, da es hier kein ländliches Umfeld wie in Brokdorf gebe.

Das kann ich nicht so sehen. Natürlich wird Berlin verstärkt Schauplatz von Demonstrationen werden. Der Brokdorf-Beschluss war nicht an örtliche Gegebenheiten geknüpft. Die Grundsätze dieses Beschlusses müssen auch auf Berlin übertragen werden.

Haben denn die Berliner überhaupt eine Chance, mit ihrem Vorstoß Erfolg zu haben?

Das glaube ich nicht. Der Brokdorf-Beschluss war bahnbrechend. Er gibt jedoch keine Freiheit für Straftaten. Wenn aus einer Versammlung rassistische Sprüche oder Sprechchöre erfolgen, die den Holocaust leugnen, ist die Polizei berechtigt, die Versammlung aufzulösen. Verboten werden darf eine Demonstration aber nur, wenn sie als Ganzes unfriedlich zu werden droht. Wenn es nur Einzelne in einer sonst friedlichen Kundgebung sind, muss die Polizei sie zu greifen versuchen, wenn es ihr möglich ist.

Die Berliner sagen: Man wolle Bayern folgen, wo das Versammlungsrecht restriktiver ausgelegt werde. Ist die Rechtsprechung im Freistaat tatsächlich so?

Nein, das kann man nicht so verallgemeinern. Es gibt durchaus eine freiheitliche Rechtsprechung bei den bayerischen Verwaltungsgerichten. Und neben dem Münchener gab es auch den Hamburger Kessel.

Interview: Philipp Gessler Ott ist Autor eines Kommentars zum Versammlungsgesetz.

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