: Der Mörder, dem alle Opfer trauten
Ein praktischer Arzt als erfolgreicher Serienkiller: Gegen den Engländer Harold Shipman, jetzt wegen Mordes an 15 Patienten verurteilt, besteht in insgesamt 146 Todesfällen Verdacht. Regierung Blair kündigt Untersuchung an ■ Von Ralf Sotscheck
Dublin (taz) – Was bringt einen Arzt dazu, seine Patienten umzubringen? In England wurde der 54-jährige praktische Arzt Harold Shipman am Dienstag für den Mord an 15 Patienten zu 15 Mal lebenslänglicher Haft verurteilt. Shipman bestreitet die Taten, die Geschworenen kamen jedoch nach fast 34 Stunden Beratung zu einem einstimmigen Schuldspruch. Richter Forbes sagte bei der Urteilsverkündung, dass in Shipmans Fall das Urteil – lebenslänglich – wörtlich gemeint sei.
Shipman stammt aus Nottingham, er ist seit 33 Jahren verheiratet und hat vier erwachsene Kinder. Er mordete seine Opfer, fast ausnahmslos ältere Frauen, mit einer tödlichen Dosis Morphium. Danach fälschte er die Akten der Patientinnen, um schwere Krankheiten vorzutäuschen. Man kam ihm nur deshalb auf die Spur, weil er nach dem letzten Mord an der 81-jährigen Kathleen Grundy deren Testament amateurhaft fälschte, bevor er die Erbschaft von umgerechnet mehr als einer Million Mark kassierte. Die Polizei ließ 14 Leichen seiner ehemaligen Patientinnen exhumieren, alle wiesen Morphiumspuren auf. Darüber hinaus hatte Shipmans Computer die Daten registriert, an denen die Akten verändert wurden – jeweils kurz nach dem Tod der Patienten.
Geld war nicht das Tatmotiv. Außer bei Kathleen Grundy profitierte Shipman in keinem Fall vom Tod seiner Opfer. Man kann über die Gründe für die Taten also nur spekulieren. Manche glauben, er wollte das staatliche Gesundheitswesen entlasten. Andere denken, sein Motiv hängt mit dem Tod seiner Mutter zusammen. Shipman war 17, als seine Mutter Vera im Alter von 42 Jahren an Krebs starb. Er musste mit ansehen, wie der Hausarzt sie täglich mit Morphium vollpumpte, um ihre Schmerzen zu lindern. Wollte er seine Patienten für ihre Langlebigkeit, die seiner Mutter versagt blieb, bestrafen? Die Polizei bereitet zur Zeit 23 weitere Anklagen wegen Mordes vor, möglicherweise hat Shipman sogar 146 Menschen auf dem Gewissen.
Schon jetzt ist er der schlimmste Serienmörder in der britischen Geschichte. Dass es sich bei dem Täter um einen Arzt, also um eine Vertrauensperson handelt, die Leben retten soll, macht den Fall für die meisten Engländer besonders unbegreiflich. Als Shipman vor anderthalb Jahren angeklagt wurde, wollte es kaum jemand seiner 3.100 Patienten in Hyde bei Manchester glauben. Viele schrieben ihm Briefe, in denen sie ihm versicherten, dass sie von seiner Unschuld überzeugt seien. Inzwischen fragen sich viele, warum niemand seiner Kollegen Verdacht geschöpft hat, obwohl die Todesrate in seiner Praxis weitaus höher war als bei anderen Ärzten.
Der Fall hat Konsequenzen für den gesamten Berufsstand. Gesundheitsminister Alan Milburn hat eine Untersuchung eingeleitet. Der Ausschuss soll radikale Reformen ausarbeiten, damit künftig sichergestellt ist, dass „alle Ärzte das Vertrauen ihrer Patienten wert“ sind. Besonderes Augenmerk wird der Ausschuss auf das Verhalten der Ärztekammer richten, die weder etwas gegen Shipman unternahm, als er 1975 wegen Drogenmissbrauchs und Rezeptfälschung verurteilt worden war, noch ihn suspendierte, als 1998 das Mordverfahren gegen ihn eingeleitet wurde. Shipmans ärztliche Lizenz ist immer noch gültig. Sein Gehalt für Kassenpatienten und möglicherweise auch seine Pensionsansprüche wollte Milburn gestern einfrieren.
Die britische Ärztekammer hat in den vergangenen Jahren versucht, sich behutsam selbst zu reformieren, um tiefgreifenderen Maßnahmen des Gesetzgebers vorzubeugen. Nach dem Fall Shipman stehen jedoch einschneidende Veränderungen an, denn das britische Gesundheitssystem ist auf einen Serienmörder in seinen Reihen nicht eingestellt.
Als Anfang des 19. Jahrhunderts in Großbritannien Sterbeurkunden eingeführt wurden, geschah das vor allem aus statistischen Gründen. Auch heute noch muss der Arzt, der die Sterbeurkunde ausstellt, den Leichnam gar nicht begutachtet haben. Es reicht, wenn er den Patienten in den zwei Wochen vor seinem Tod gesehen und eine Krankheit festgestellt hat. Darüber hinaus gelang es Shipman mühelos, große Mengen Morphium heimlich anzuhäufen. Er verschrieb einfach mehr als nötig.
Der Ausschuss soll sich auch um die Frage kümmern, wie verhindert werden kann, dass die Akten der Patienten nachträglich verändert werden können. In Shipmans Fall kam das nur heraus, weil ohnehin ein Verdacht gegen den Arzt bestand. Hauptaufgabe der Reformen ist es laut Gesundheitsminister Milburn jedoch, das angeschlagene Vertrauenverhältnis zwischen Arzt und Patienten wieder herzustellen. Vielleicht führt der Fall ja dazu, dass die Ehrfurcht vor dem weißen Kittel in Zukunft ein wenig schwindet.
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