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Ein Handbuch mit Diskussionsstoff

Ein Buch zu den jugoslawischen Nachfolgekriegen fasst den derzeitigen Wissensstand zum Thema beispielhaft zusammen. Herausgeberin Dunja Melcic hat ein lebendiges Standardwerk erstellt ■ Von Heiko Haensel

Die Demokratisierung Jugoslawiens führte zur Auflösung der Föderation, ihre Auflösung zum Krieg

Die jugoslawischen Nachfolgekriege seit Anfang der Neunzigerjahre haben nicht nur die westliche Politik vor enorme Probleme gestellt. Auch wissenschaftlich stellen die staatliche Auflösung der sozialistischen Föderation, die ethnischen Säuberungen und die Neudefinitionen kollektiver Identitäten eine komplexe juristische, anthropologische und historische Herausforderung dar.

Die intellektuelle Verarbeitung dieser Ereignisse läuft bereits seit dem Bosnienkrieg auf Hochtouren. Die vorjährige Nato-Intervention hat hier neue Impulse für eine Reflexion des Erosionsprozesses von Jugoslawien gegeben. Davon zeugt eine Publikationsflut und zahlreiche in der Bundesrepublik geförderte Forschungsprojekte.

Das Handbuch „Jugoslawienkrieg“ ist ein solches Projekt. Innerhalb von anderthalb Jahren hat die Herausgeberin Dunja Melćić deutsche und internationale Experten für das Projekt eines umfassenden Lese- und Nachschlagewerkes zum Thema gewonnen. Die Gesamtkonzeption des Lexikons ist so systematisch wie anspruchsvoll. Alle wesentlichen Informationen werden präsentiert, Vorgeschichte, Ablauf und Nachwirkungen der Gewalteskalation nachgezeichnet.

Dem Leser wird mit Glossar, Abkürzungsverzeichnis sowie einem Namens- und Sachregister ein Apparat in die Hand gegeben, der es überhaupt erst möglich macht, den „Ozean des Wissens“ zu durchschwimmen. Den einzelnen Artikeln schließen sich meist ausführliche Literatur- und Internethinweise an. Kurzum: ein Standardwerk.

Das Buch ist in vier Abschnitte gegliedert: historische Entwicklung seit dem Mittelalter bis zum Ende Jugoslawiens 1991, Ideengeschichte (Identität und Kultur), Kriegsverlauf und Kriegsfolgen. Die meisten Artikel referieren ausführlich den jeweiligen Wissensstand, so Matthias Rüb „Jugoslawien unter Milošević“ und Jacques Rupnik „Das Agieren der Großmächte“. Nur wenige Beiträge enttäuschen, wie der unzureichende Aufsatz von Dimitrije Boarov über die Vojvodina.

Auch Viktor Meier bietet einen eher uninspirierten Überblick über Jugoslawien in den Jahren von 1966 bis 1991. Dafür entschädigen die Glanzlichter, unter anderem ein Text zur „Zur Ethnogenese auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien“ und ein Beitrag von Željko Ivankovic und Dunja Melćić über den bosniakisch-kroatischen „Krieg im Kriege“. Deren Arbeit leistet einen neuen Beitrag zur Geschichtsschreibung des Bosnienkrieges.

Natürlich wurde nicht alles berücksichtigt. Allerdings fällt auf, dass Ökonomie- und Modernisierungsaspekte zugunsten von Politik und Ideologie eher randständig erörtert werden. Martin Mayers Aufsatz zur „Entwicklung des Bildungswesens 1918 – 1991“ bildet hier eher die Ausnahme.

Selbstredend bleiben die Interpretationen strittig. Über die These der Herausgeberin aus dem Vorwort, bei den jugoslawischen Kriegen handle es sich um „den einen Krieg Slobodan Milošević’ und seines Regimes, der mehrere Etappen durchlief“, ist in der politischen Öffentlichkeit bereits viel diskutiert worden.

Dass es sich beim Belgrader Machtzentrum um den Hauptkriegstreiber handelte, steht freilich außer Frage. Wie steht es aber mit der grundsätzlichen Gewaltbereitschaft der „Sezessionisten“ wie Slowenen, Kroaten oder UÇK? Ivo Banac charakterisiert die Unausweichlichkeit des Zerfalls Jugoslawiens mit dem Satz: „Man konnte Jugoslawien haben oder eine politische Demokratie. Nicht beides.“

Eine andere Lehre nach dem Zweiten Weltkrieg lautete aber auch: Ein Ende Jugoslawiens führt zu ethnischen Kriegen. Demokratisierung bedeutete Auflösung der Föderation, ihre Auflösung den Krieg. Die Unabhängigkeitsbewegung Montenegros steht heute vor genau diesem Problem.

Hinzu kommt das „serbische strategische Dilemma“. Einzig der Verzicht der Serben auf Territorien und Bevölkerung hätte die Kriege verhindert. Nach dem traumatischen Verlust des Gesamtstaates auch noch der freiwilligen Amputation serbischer Gebiete – wie willkürlich auch immer die Nationalisten diese definieren – zuzustimmen, war scheinbar zu viel verlangt. Dazu war, unabhängig von Milošević, das Gros der serbischen Gesellschaft nicht bereit.

Daneben stellen einige Ereignisse die These von der Alleinschuld Milošević’ zumindest in Frage. Der Slowenienkrieg war mit Sicherheit kein Krieg Milošević’, sondern der der Armee und des letzten jugoslawischen Ministerpräsidenten Marković, ein Gegner der serbischen Nationalisten. In Mazedonien ist es nicht zum Krieg gekommen. Das Handbuch gibt keine Antwort darauf, warum Milošević diese Gelegenheit versäumte.

Zudem sind die nationalen Aspirationen der kroatischen Regierung unklar. Dazu müssen erst die Gerüchte um die zwischen Milošević und Tudjman 1991 verabredete Teilung Bosnien-Herzegowinas entkräftet werden. Der von politischer und öffentlicher Seite geforderten Antwort auf die „Schuldfrage“ muss eine möglichst genaue historische Differenzierung vorausgehen.

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