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Küssen mit und ohne Zunge

Erwachsenwerden in Belgien: Beim Kinderfilmfest geht es weniger ums kindliche Dasein als um den romantisierenden Blick der Alten auf die eigene Vergangenheit. In Amerika lächelt derweil Onkel David Bowie mit frisch renovierten Zähnen ■ Von Thomas Winkler

Es gibt Länder, bei denen hat Renate Zylla die Qual der Wahl. Und wenn Anzahl und Qualität der Kinderfilm-Produktionen in einem Land etwas über den dort herrschenden Umgang mit dem eigenen Nachwuchs sagt, dann sieht es vor allem hierzulande nicht gut aus. Es gab überhaupt nur einen einzigen deutschen Langfilm, den die Leiterin des Kinderfilmfestes in ihr Programm hätte aufnehmen können. Sie hat darauf verzichtet. Weil der Film schon einen Verleih hatte, sagt sie.

Im Gegensatz dazu hatten sich gleich sechs Filme aus dem Iran beworben. Zwei schafften es schließlich in die Auswahl. Darunter „Rang-e-Khoda - Die Farbe des Paradieses“, der letzte Film des renommierten Kinderfilmers Majid Majidi. Das herzzerreißende Drama um einen blinden Jungen ist inzwischen auch für den Auslands-Oscar nominiert (Besprechung folgt).

Doch auch wenn oft der Mangel die Auswahl bestimmt, scheinen sich, wie durch eine höhere Macht gesteuert, viele Filme des diesjährigen KinderFilmfest um ein gemeinsames Thema zu bemühen, von einer ähnlichen Fragestellung bewegt zu werden. Vielleicht liegt es daran, dass Filmemacher keine Kinder mehr sind: Meist scheint weniger das Dasein als Kind zu interessieren als die Stationen und Brüche auf dem Weg zum Erwachsenwerden.

Vor allem in Belgien: In „Man van Staal - Der Mann aus Stahl“ geht es in scheinbar endlosen Sommerferien nur ums erste Mal. Den ersten Alkohol, die erste Erfahrung mit dem Tod, die erste Schlägerei und natürlich vor allem den ersten Kuss, dem eine geradezu mystische Bedeutung zugewiesen wird. Dass er diese natürlich meist erst durch die romantisierende Rückschau im Alter erhält, muss in diesem Fall nicht stören. Auch nicht dass die feuchten Träume des 13jährigen Victor überraschend konkret an Kliniksex erinnern. Meist jedoch findet „Mann aus Stahl“ eine souveräne Balance zwischen dem verklärenden Blick auf die angeblich so unbeschwerte Jugendzeit und einem durchaus realistischen Abbild der pubertären Nöte. In der Schlusseinstellung werden beide Blicke versöhnt, wenn die Erziehungsberechtigten selig lächelnd dem ersten Kuss des Nachwuchs zusehen, in ihren Augen die Erinnerung an die eigene Vergangenheit, vor ihren Augen der Stoff für Erinnerungen der nachfolgenden Generation.

Auch „Blinker“ kommt aus Belgien, spielt in den Ferien und schlägt sich mit der Pubertät herum. Küsse gibt es hier auch, aber ohne Zunge. Stattdessen werden auf dem Schrottplatz komische Apparaturen gebastelt, im Burggraben getaucht oder ein geheimnisvolles Schloss erforscht. Kurz: So getan, als wäre das Leben noch nicht bis Belgien vorgedrungen. Nicht einmal mit den als Karikatur gezeichneten Eltern gibt es Auseinandersetzungen, denn die benehmen sich im Gegensatz zu den Kindern wirklich kindisch – in einer unwirklichen Idylle aus Hühnern, Hunden, saftigen Wiesen, tiefen Wäldern und dem lieben Dorftrottel. Das Ergebnis ist ein durch und durch harmloser Spaß, bei dem selbst der erste Kuss eher beiläufig zustande kommt.

Auch in Übersee findet das Erwachsenwerden vorzugsweise in den Sommerferien statt. In den USA sind die besonders lang, die Vorstädte dazu ausgesucht idyllisch und auch beim Kinderfilm der Hang zum Großdrama ausgeprägt: Unter existentiellen Krisen geht da gar nichts. So beginnt „Mr. Rice’ Secret – Das Geheimnis des Mr. Rice“ bereits mit dem Ableben seines Titelhelden und großmächtig angepriesenen Besetzungshighlight: David Bowie hat fortan nur noch drei oder vier Kurzauftritte in Rückblenden, in denen er milde durch seine makellos renovierten Zähne lächelt. Der Film aber versucht auszuloten, wie Kinder damit umgehen, wenn sie mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert werden. Owen hat Krebs, am Ende des Sommers wird sich klären, ob er die Krankheit besiegt hat. In den Wochen bis dahin durchlebt er alle denkbaren Gefühlsschwankungen zwischen Verzweiflung und Verdrängung, Hysterie und Depression. All das ist versiert inszeniert, gut gespielt und handwerklich wohltuend sauber gemacht, aber aus der Auseinandersetzung mit der Krankheit und den daraus erwachsenden psychischen Problemen wird dann doch noch ein Märchen um das Geheimnis der Unsterblichkeit, das sich die typisch amerikanische Tendenz zum Rührstück leider nicht verkneifen kann. So endet der Film so amerikanisch, wie er nur enden kann: Ausgerechnet mit einem Homerun im ersten Baseballspiel von Owens neuem Leben. Bis dahin muss Bowie ständig in moralisch einwandfreien Lehrsätzen reden: „Wer jemanden hasst, der versteht nur nicht“ oder „Es ist wichtig, was man im Leben getan hat, nicht wieviel Zeit man hatte.“

Während einem in den USA das böse Schicksal das Kindsein verleitet, proben die „Tri Bata - Drei Brüder“ in der kasachischen Produktion das Großsein mit Mutproben und Melonendiebstahl. Für die Flucht ins von einem Erwachsenen versprochene Paradies klauen sie eine Lokomotive. Dass es fortan nicht mehr ums Ankommen geht, ist zwar selten ein Kindertraum, aber halt typisch für einen Road-Movie.

Es sind also immer Jungs. Fast immer. Immerhin in „Sherdil“ wird die jugendliche Welt aus weiblicher Sicht erschlossen. Aber nicht nur die Protagonistin Sanna bleibt seltsam sprachlos, auch der von der erst 24jährigen schwedischen Regisseurin Gita Mallik gedrehte Film. Was ist gefährlicher? Ein arabischer Hengst oder ein gleichaltriger Junge? Mal wieder muss das große, starke Tier als Symbol für das Männliche herhalten, um verschämt das sexuelle Erwachen behandeln zu können. Aber ob herumtollende Pferde in Superzeitlupe gefilmt werden oder die Klassenkameradinnen ausführlich diskutieren, wer mit wem warum gehen möchte, die Inszenierung bleibt oft steif und weitgehend weltfremd. Irgendwo zwischen „Wendy“ und „Bravo“ ist ein schwarzes Loch und dieser Film ist leider darin verschwunden. So gesehen aber ist „Sherdil“ vielleicht einer der ehrlichsten Filme des Kinderfilmfestes, denn wahrscheinlich muss der Blick der Erwachsenen tatsächlich versagen: Wer versteht schon, was in der Pubertät tatsächlich passiert?Termine: www.berlinale.de

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