: Pauker kommen alle wieder rüber
Essener Bildungsökonom schockt GEW-Kongress: Bis 2010 keine Lehrereinstellungen im Osten ■ Aus Hamburg Christian Füller
Erst fiel die Mauer, dann die Geburtenrate in den neuen Ländern. Die Gebär- und Zeugungswilligkeit im Osten ist wieder da – aber die Schulen werden sich von dem Nachwendegeburtenschock so schnell nicht erholen. Weil sich die Schülerzahlen in den kommenden zehn Jahren halbieren, werden jenseits der Elbe keine neuen Lehrer gebraucht. Das bedeutet: Die Lehramtsstudenten des Ostens werden ihr Berufsziel im Westen verwirklichen oder gar nicht.
Der renommierte Essener Bildungsökonom Klaus Klemm hat mit diesen dramatischen Zahlen gestern den Kongress der Lehrergewerkschaft GEW erschreckt. Die GEW wollte sich in zehn „Hamburger Thesen“ mit einer grundlegenden Veränderung des Lehrerberufs und seiner Ausbildung auseinandersetzen, doch Klemm ließ mit seinem neu berechneten Datenmaterial wenig Hoffnung aufkommen.
Zwar werden die Einstellungschancen im Westen der Republik in den kommenden Jahren so gut wie selten zuvor sein; Klemm ging davon aus, dass fast auf jeden Absolventen des Westens eine Stelle wartet. Im Osten dagegen sieht es mehr als trist aus. Im Moment werden dort 178.000 LehrerInnen gebraucht. 2010 sind es nur noch 100.000.
Die Folgewirkungen des demographischen Zusammenbruchs nach 89 auf die einzelnen Schularten illustrieren die Situation. In den Grundschulen sinkt der Bedarf an Lehrern auf 28.000 (heute 41.000), das heißt, es muss wenigstens kein Pauker entlassen werden oder in Zwangsteilzeit gehen. Das erledigt die normale Verrentungsquote. Bei den Gymnasien wird es hingegen trotzdem um 2010 noch rund 5.000 Lehrerstellen zu viel geben.
Klemms Befunde werden zwei Entwicklungen nach sich ziehen. Es wird eine Art Völkerwanderung der Pauker von Ost nach West stattfinden, und die Lehrerkollegien werden weiter vergreisen. Denn die Zahlen der politisch gewünschten so genannten „Einstellungskorridore“ sind mikroskopisch klein. Sachsen-Anhalt zum Beispiel stellt heute gegen den Trend 100 Lehrer jährlich ein, Mecklenburg-Vorpommern immerhin 170.
Die GEW, die im Osten künftig mehr Reisebüro als Interessenvertretung sein wird, reagierte erwartungsgemäß grimmig. Die Politik habe die Situation verschlafen. Von einer kontinuierlichen Schulpolitik könne keine Rede sein. Bildungsökonom Klemm blieb nüchtern. Er forderte die Kultusministerkonferenz auf, ihre Bedarfsprogrnosen und ihr Zahlenmaterial für den Lehrerberuf künftig jährlich auf den neusten Stand zu bringen.
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