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Peanuts und andere Klümpchen

Die Einsamkeit am Ende der Nahrungskette oder Klauen, ein Mutterinstinkt: Claire Devers „Die Diebin von St. Lubin“ (Forum)

Nudeln hätte er noch durchgehen lassen. Kartoffelpüree, in Gottes Namen. Aber bei sechs Kilo Fleisch hört die Nächstenliebe auf. Der Supermarktdetektiv muss Françoise Barnier mitnehmen. Und dazu schaut er so bedauernd, als sei er versehentlich auf ein Meerschweinchen getreten. Dabei ist die Delinquentin eine Frau mit geradem Gang und einem ungebeugtem Trotzdem im Blick. Sie weiß, dass eine Wurst eine Wurst ist. Und dass ihre Töchter etwa 2.900 Kalorien, 35 Gramm Fett und 40 Eiweiß am Tag brauchen, wie die Angeklagte vor Gericht strafmildernd durchdekliniert. Aber wie man einen Kredit aufnimmt, ohne schamdampfend in die Knie zu gehen, bleibt ihr schleierhaft. Ihr Pflichtverteidiger ermutigt sie zu kühneren Finanzierungen mit ungedeckten Schecks. Bloß keine Delikte „mit der bloßen Hand“. Da nickt Frau Barnier und betrachtet das Fragezeichen einer Haarsträhne.

„La Voleuse de St.Lubin“ von Claire Devers schildert einen Fall, wie man ihn in TV-Gerichten gern als bürgerliches Trauerspiel inszeniert. Eine reuige Angeklagte, von Mann, Vaterland und Gott verlassen, entschließt sich zu einem Akt der Verzweiflung. Das Klauen, ein Mutterinstinkt. Das Motiv, Notstand. Und nur Menschen mit Herzen aus Stein könnten bei einem Freispruch Übles raunen.

Claire Devers interessiert weniger die öffentliche Moral, als der Tabubruch einer Zukurzgekommenen. Ihr Film streift durch die Einsamkeit am Ende der Nahrungskette. Manche Einstellungen sind wie aus einem klassischen Sozialdrama, in dem ein übermächtiger Warenkreislauf alle Schmächtigen knebelt. Andere kommen so unprätentiös wie ein visuelles Logbuch daher. Der Film zeigt Françoise beim Putzen in einer Großfleischerei, wie sie Klümpchen in den Ausguss spült oder sich Ohrenschoner überzieht, weil die Wurstmaschine mehr Krach macht als ein Autobahnkreuz. Wir sehen sie, wie sie sich bei Regen unterstellt und Frauen zuhört, die von ihrem letzten Sonnenbrand erzählen. Als ihr Auto später den Geist aufgibt, rennt Françoise im Kreis. „Du musst fahren“, wiederholt sie wie einen Schluckauf. Es ist zum Heulen. Und, wie die Verzweifelte da in leichter Untersicht in die Kamera schaut, liefert Devers nebenbei ein schlichtes, ergreifendes Pendant zu „Falling Down“. Zu jener Szene, in der Michael Douglas’ Amoklauf beginnt. Mitten im Stau zieht er die Wumme. Weil ihm das Verkehrschaos auf den Sack geht, weil ihn sein Job ankotzt und seine Familie langsam auslutscht.

Françoise denkt nicht ans Schießen. Aber ans Aufgeben. „Niemand hilft einem“, sagt sie im Zeugenstand. Die Front National schickt ihr seitdem Wurfsendungen ins Haus. „Eine Französin stiehlt, um ihre Kinder zu ernähren“, steht in kinderfaustdicken Buchstaben darauf. Gern würde die Partei der Diebin, die durch ihren Freispruch zur nationalen Berühmtheit geworden ist, helfen. Françoise wird darüber nachdenken. Birgit Glombitza

„La Voleuse de Saint Lubin“. Regie: Claire Devers. Mit Dominique Blanc, Denis Podalydés. Frankreich 1999, 80 Minuten. Heute (19. 2.), 21.30 Uhr, Delphi; 20. 2., 12.30 Uhr, Cinestar 5 und 18.30 Uhr, Delphi

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