: Die Schicksalswahl
Die Beteiligung bei der Abstimmung über Irans künftiges Parlament ist hoch, die Stimmung optimistisch ■ Aus Teheran Katajun Amirpur
Vor der Moschee in Ekbatan im Teheraner Westen stehen die Menschen Schlange. Die Stimmung ist gut. Vor allem Jugendliche sind unterwegs. Jeden, der ihnen über den Weg läuft, fragen sie höflich, ob er denn schon gewählt habe. Und wer mit Nein antwortet, muss sich dem Redeschwall der jungen Leute stellen. „Sie müssen wählen gehen, schließlich geht es um den Fortgang der Reformen“, sagt eine Studentin. „Jetzt können wir endlich die Kandidaten ins Parlament bringen, die die Öffnungspolitik Chatamis unterstützen“, assistiert eine andere. Ihr Enthusiasmus überzeugt. Ein altes Mütterchen verspricht, schnell ihren Personalausweis holen zu gehen.
Mina hat sich schon lange nicht mehr so auf einen Tag gefreut. „Heute entscheidet sich das Schicksal des Landes“, sagt sie. Die Einwohner Teherans dürfen unter über achthundert Kandidaten dreißig auswählen. So viele Abgeordnete schickt die Hauptstadt ins Parlament. Mina hat Tage damit zugebracht, ihre Kandidatenliste zu erstellen. Jetzt steht sie mit Dutzenden anderer im Wahllokal und schreibt fleißig Namen von ihrer mitgebrachten Liste ab. Laut iranischem Wahlgesetz kreuzen die WählerInnen keine Namen auf dem Stimmzettel an, sondern müssen die Namen selbst aufschreiben.
Seit bekannt wurde, welche Kandidaten der Wächterrat zu den Wahlen zugelassen hat, diskutierte die ganze Familie, wer wählbar sei. Jeder gab seine Kenntnisse über die betreffende Person zum Besten, die schriftlichen Erzeugnisse der Kandidaten wurden gekauft und man las sich gegenseitig vor, für welche Politik derjenige steht. Seit der Wahl Mohammad Chatamis zum Präsidenten vor knapp drei Jahren ist die ganze Familie politisiert. Dabei ist man vorher nie zu den Wahlen gegangen. „Der Wahlausgang wird ja doch von vorneherein festgelegt“, sagte Minas Mann immer. Aber als dann Chatami gewählt wurde, zog die Politik wieder in den Haushalt der Hosseinis ein. Jeden Tag werden jetzt mehrere Zeitungen gekauft. „In den Zeitungen steht nun endlich, was in diesem Land passiert“, meint der Sohn von Mina. Genau deshalb wurden die kritischen Blätter in den letzten Monaten immer wieder verboten. Doch an die Stelle jeder verbotenen Zeitung treten zwei neue Blätter.
Auf Teherans Straßen stehen die Menschen Schlange – allerdings nicht überall. Vor dem Tor der Universität finden sich nur wenige ein. Auch in der Umgebung der Universität ist es menschenleer. Dabei wurden extra die Straßen abgesperrt, damit sich die Menschen auch auf die Straße setzen können. Von dort sollten sie dem Freitagsgebet lauschen. Doch die Predigt hält ein Konservativer: Ajatollah Mohammad Jasdi hat in den letzten Monaten sein Möglichstes getan, um dem Volk die Freiheiten, die Chatami ihm gegeben hat, wieder zu nehmen. Der ehemalige Vorsitzende der Judikative ist für das Verbot der kritischen Zeitungen verantwortlich. Außerdem hat Jasdi die Journalisten und Politiker hinter Gitter gebracht, die sich am meisten für die Öffnungspolitik Chatamis einsetzen.
Jasdis Predigt wird im Fernsehen übertragen. Als Jasdi sagt, der Wächterrat, dessen Vorsitzender er inzwischen ist, habe sich nicht parteiisch verhalten, erntet er lautes Gelächter im Wohnzimmer der Hosseinis. Schließlich ist der Wächterrat fest in der Hand der Konservativen. Er hat einige der bekanntesten Köpfe der Reformfraktion disqualifiziert. Die Reformer sagen allerdings, sie seien angenehm überrascht gewesen. Sie hätten erwartet, dass noch mehr ihrer Kandidaten disqualifiziert würden. So blieben einige bekannte Namen im Rennen. Die Frauenrechtlerin Dschamileh Kadiwar zum Beispiel oder Ahmad Borqani, der vor einigen Monaten – aus Protest gegen die, wie er meinte, nicht weit genug gehende Öffnungspolitik des Kulturministers Mohadscherani – von seinem Posten als stellvertretender Kulturminister zurücktrat.
Auch zwei weitere bekannte Namen blieben im Rennen: Die beiden Männer haben zwar selbst keine einschlägige Politikerfahrung, aber sie sind mit zwei Politikern verwandt, die wie keine anderen als Garanten der Reformpolitik gelten. Der eine ist Resa Nuri, der Bruder des im Volk beliebten Geistlichen Abdullah Nuri. Eigentlich war Nuri der Spitzenkandidat der Reformer. Die Reformer hatten ihn sogar zum Parlamentspräsidenten ausersehen. Doch seit einigen Monaten sitzt Nuri im Gefängnis. Vom Journalisten über den Intellektuellen bis hin zum kleinen Mann auf der Straße mutmaßen alle, die Konservativen hätten ihm einen Prozess nur deshalb angehängt, um seine Kandidatur zu verhindern.
Der andere Kandidat mit großem Namen ist Mohammad Resa Chatami, der Bruder des Staatspräsidenten. Bis vor wenigen Wochen noch kannten ihn die wenigsten, inzwischen geht das Gerücht, er habe in Teheran die meisten Stimmen gewonnen. Chatami hat den guten Ruf seines Bruders geschickt einzusetzen verstanden.
Der größte Verlierer der Wahl scheint der ehemalige Staatspräsident Haschemi Rafsandschani zu sein. Rafsandschani hatte auf Drängen der Konservativen kandidiert. Sie sahen in ihm ihre letzte Chance, meinten, er sei der einzige, der ein von Reformern dominiertes Parlament im Zaum halten könnte. Und obwohl Rafsandschani für die wirtschaftliche Misere des Landes verantwortlich gemacht wird, haben ihm viele gute Chancen ausgerechnet, einen Sitz zu gewinnen und vielleicht sogar Parlamentspräsident zu werden. Nach Angaben der Zeitung Sobh-e emruz soll Rafsandschani nun allerdings auf Platz 25 oder gar 35 liegen.
Es waren vor allem zwei Slogans der Reformer, die Mina gefallen haben: „Hoch lebe mein Gegner“ und „Iran gehört allen Iranern“. Beide Slogans gehen auf Aussprüche Chatamis zurück. „Wir haben so lange geschrien, ‚Nieder mit dem und dem‘, dass es Zeit wird, alle hochleben zu lassen“, hatte der Präsident gesagt. Der andere Slogan bezieht sich nicht nur auf die religiösen Minderheiten des Landes, sondern vor allem auf diejenigen, die von den Konservativen offen als Staatsbürger zweiter Klasse abgekanzelt werden, weil sie dem System der Islamischen Republik kritisch gegenüberstehen.
Es sieht so aus, als habe sich nicht nur Mina von dieser neuen Art Politik zu machen überzeugen lassen. „Die Reformer erobern das Parlament“, titeln die Zeitungen am Tag nach der Wahl.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen