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Muss ich jetzt auch Millionär werden?

■ Die neue Aktie der Siemens-Tochter Infineon wird noch mehr brave Sparer zu mutigen Kleinanlegern machen. Denn: Wer sich immer noch aus dem Börsenspiel raushält, könnte am Ende der Dumme sein – wer mitmacht auch

Berlin (taz) – Für Volker Pietsch sind die ruhigen Zeiten vorbei. Schließt der Finanzberater der Berliner Verbraucherzentrale morgens sein Büro auf, stehen die Ratsuchenden schon Schlange. „Die Leute laufen Sturm“, sagt Pietsch, „und schniefen in ihr Taschentuch.“ Seine Klientel jammert – denn die Zinsen auf ihren Sparbüchern sind so niedrig und die Aktienkurse ach so hoch. Viele Leute würden ihre Sparverträge gerne auflösen und dafür lieber Anteilsscheine an Firmen kaufen.

Das Börsenfieber grassiert, seitdem sich herumgesprochen hat, dass man mit Aktien in kurzer Zeit richtig Geld verdienen kann. Merkwürdige Phänomene stellen sich ein: Angestellte von verschnarchten Sparkassen-Filialen verkaufen die begehrten Titel schon am Telefon. Personalausweis, Unterschrift, Formulare? Alles überflüssig – wer anruft, dem wird zügig geholfen.

Ab heute werden die Telefone in den Banken noch häufiger klingeln. „Infineon“ – eine Tochter des Siemens-Konzerns und Hersteller von Halbleitern, geht an die Börse. Heute beginnt die Phase, in der auch Kleinanleger die Aktien zeichnen können. „Das Timing ist sehr gut“, loben die Analysten. Hunderttausende von neuen Kleinanlegern werden erwartet, möglicherweise entscheidet am Ende das Los über die Vergabe. Ähnlich wie die Telekom warb Infineon in ganzseitigen Zeitungsanzeigen um privates Geld.

Mit dem Börsengang der Telekom AG vor drei Jahren begann die Aktieneuphorie. Wer damals für rund 1.500 Mark Telekom-Aktien kaufte, kann sich heute über derenWert von rund 7.000 Mark freuen. Und wer damals beim Thema Aktien müde abwinkte, fragt sich heute beklommen: Muss ich nicht wenigstens jetzt einsteigen, um nicht dumm dazustehen?

Fast jeder kennt einen, der profitiert hat von steigenden Kursen. Die Zahl der Aktionäre in Deutschland ist seit 1997 um rund 2,5 Millionen auf acht Millionen geklettert. Neben dem Höhenflug der Telekom-Aktie zogen auch die Kurssteigerungen der High-Tech-Werte am Neuen Markt hoffnungsvolle Anleger an. Am Neuen Markt werden die Anteile von jungen Software-, Biotechnologie- oder Multimediafirmen gehandelt. Zum Beispiel des Berliner Unternehmens Pixelpark.

Am 4. Oktober 1999 wurde die Multimedia-Agentur Pixelpark erstmals an der Frankfurter Börse notiert. Ausgabekurs: 16,3 Euro. Knapp drei Monate später war der Wert pro Aktie bei 113 Euro angekommen – eine Steigerung um 593 Prozent. Wer im Oktober 5.000 Mark investiert hatte, konnte Ende Dezember knapp 35.000 Mark erlösen – wenn er verkaufte.

Fast jede vierte der 166 Neuemissionen am Neuen Markt erbrachte im vergangenen Jahr Kursgewinne von 100 Prozent oder mehr. Das klingt traumhaft – und dabei gerät leicht in Vergessenheit, dass mehr als die Hälfte der Jungunternehmen den Aktionären nur Verluste bescherten.

Doch High-Tech, Internet, Neuer Markt: Das sind längst magische Wörter geworden für eine junge Generation von Anlegern. Sie führen ihr Depot beispielsweise über das Internet bei Direktbanken wie Comdirect oder Consors. Das Internet-Broking gilt weltweit als Wachstumsmarkt.

In den USA wird die Zahl der heute fünf bis sieben Millionen Depots für das Internet-Broking bis zum Jahr 2001 auf 14 Millionen angewachsen sein, schätzen die Finanzkritiker Anthony und Michael Perkins in ihrem Buch „The Internet Bubble“.

Diese Online-Anleger schichteten im Jahr ihr Depot zu mehr als 60 Prozent um, „mehr als die Hälfte dieses Tradings ist aber nicht gerechtfertigt – nur Lärm, der keinen Gewinn bringt“, so Perkins und Perkins in Berufung auf US-Studien.

„Die Narren tanzen, aber die noch größeren Narren sitzen auf der Zuschauerbank“, meint der US-Börsenexperte Barton Biggs zur Internet-Manie. Viele Kleinanleger wollen zumindest nicht die größeren Idioten sein: Besser mitmachen als abgehängt zu werden, so das Motto vieler Normalverdiener, auf das die neuen Discount-Broker bauen.

Die hoffnungsvolle Stimmung heizt sich damit gewissermaßen von selbst an. Denn wenn immer neue Groß- und Kleinanleger ihr Kapital in den Aktienmarkt stecken, werden die Kurse weiter steigen. Die Frage ist nur: Wann ist die Obergrenze erreicht? Dazu gab es auch in der Börsengeschichte spektakuläre Antworten. „Die Werte am Aktienmarkt haben offenbar ein permanentes Hoch erreicht“, verkündete der berühmte US-amerikanische Ökonom Irving Fisher die freudige Botschaft. Das war im Herbst 1929. Kurz darauf kam es zum weltweiten Crash.

Fisher war der „verführerischsten Idee“ dieser Dekade erlegen, erklärt der US-Finanzautor Edward Chancellor, „er glaubte, dass Amerika eine neue Ära grenzenloser Prosperität erreicht hatte.“

Auch heute wieder verkünden Ökonomen, dass es in den USA eine „New Economy“ gibt ohne hässliche Abstürze; dies wäre auch für deutsche Kleinanleger erfreulich. Gleichzeitig warnen Skeptiker jedoch vor Einbrüchen und Verlusten. Es ist der alte Streit.

Für viele aber endet das Börsenspiel im unerquicklichen Ernstfall. Finanzberater Pietsch von der Berliner Verbraucherzentrale kennt die Schattenseite des Goldrauschs. Er weiß von unglücklichen KleinanlegerInnen zu berichten, die sogar KundenberaterInnen bei ihrer Sparkasse für Verluste haftbar machen wollten. Deshalb empfiehlt Pietsch, nur eine begrenzte Geldmenge im Börsenroulette einzusetzen: Nur eben genau die Geldsumme, auf die man auch verzichten könnte, ohne im Lebensstandard abzurutschen.

B. Dribbusch, H. Koch

Pro und Contra, Seite 10

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