: Die Tonspur zum 20. Jahrhundert
Seit den Achtzigern Avantgarde: Erst benutzte die britische Performancegruppe Forced Entertainment Sprache zur Dokumentation ihres eigenen Zusammenbruchs. Nun lässt sie Bühnenbewegung für immer überflüssig erscheinen. Ein Porträt ■ Von Christiane Kühl
Es war ein Schock. Nicht dass Tim Etchells je ein Fürsprecher intellektuellen Eigentums gewesen wäre. Aber an diesem Nachmittag, als er sein Wohnzimmer in Sheffield betritt und anhören muss, wie eine Hand voll drittklassiger Schauspieler in einem viertklassigen Film Wort für Wort ganze Phrasen aus seinem Theaterstück „Some Confusions about the Law of Love“ kopiert, ist er „shocked beyond belief“.
Bis eine subtilere Fassungslosigkeit hinterherkroch – als Etchells nämlich realisierte, „dass ich etwa fünf Jahre vorher durch diesen Film gezappt haben musste, dass ich Sätze daraus geklaut hatte, vermutlich auf eine Zeitung geschmiert, irgendwann in ein Notizbuch übertragen und 1989 in dem Text verarbeitet hatte“. So kann’s kommen, wenn der Arbeitsplatz eine Zitathalde ist. Und der Autor sich nicht als Medium einer originären inneren Stimme begreift, sondern als Raum, durch den viel hindurchfließt und einiges hängen bleibt. Wenn Schreiben Sampeln ist, schlägt der Text schon mal zurück.
1984, „zu einer Zeit des Thatcherism, als man sich zwischen drei bis vier Millionen Arbeitslosen verstecken konnte und in Ruhe seiner Beschäftigung und dem Armsein nachgehen“, wie Tim Etchells in seinem 1999 erschienen Essayband „Some Fragments“ erinnert, zog er mit sechs befreundeten Künstlern nach Sheffield im Norden Englands und gründete die Performancegruppe Forced Entertainment. „Wir waren durchschnittlich 24 Jahre alt, und dass wir am Rand des Theaters agierten, hat uns nicht viel ausgemacht – wir wussten, dass wir im Zentrum von etwas anderem waren.“ Auch im Shakespeare-fixierten England formierte sich Anfang der Achtziger eine Generation von Theatermachern, die den Einfluss von Musik, Film, Science-Fiction, Late-Night-TV, Graffiti und persönlicher Geschichte auf ihre Arbeit nicht ignorieren, sondern ausstellen wollte.
Die Idee war, „die Belange der Zeit in einer Sprache zu diskutieren, die aus ihnen entsteht“. Dass Forced Entertainment bei jeder der 18 Shows, die sie seit ihrer Gründung neben Ausstellungen, Filmen und CD-ROMs produziert haben, am Anfang selbst nicht wussten, was am Ende entstehen würde, ist programmatisch. Die besten Performances, behaupten sie, sind dem Denken immer voraus, denn sie sprechen von Dingen, von denen man anders nicht sprechen kann.
Ihr lokales und mentales – und genau deshalb thematisiertes – Umfeld war die Stadt. Die Stadt als Ort der Möglichkeiten, des Nebeneinanders und der Gleichzeitigkeiten, als very eighties Metapher für die Welt und das Theater: im Wechselspiel von Nähe und Distanz, der Besetzung des Territoriums durch Körper und Imagination und Vermischung von wirklicher und medialer Landschaft. Immer wieder konstruiert die Gruppe Identitäten aus bunten Versatzstücken, demoliert sie mit denselben oder dem plötzlichen Einbruch scheinbarer Privatheit. Menschen auf der Bühne, die unablässig zitieren, aber selten zu wissen scheinen, wer sie sind. „They pretended to be Elvis. They pretended to be Lee Harvey Oswald. They pretended to tell lies, they pretended to tell the truth“, heißt es lakonisch in ihrem Jubiläumsstück „A Decade of Forced Entertainment“ (1995), „and often they pretended to be themselves.“ Die Sprache jedenfalls half wenig, aus dem Fantastischen das Reale zu filtern. Auf der Bühne der Briten dokumentierte sie in erster Linie ihr eigenes Versagen.
Dass Tim Etchells wenig von well-made plays hält, hat er nie verhehlt: „Bad writing was always more our style.“ Sein Interesse an Sprache konzentriert sich auf das, was ihre schriftliche Form selten transportiert, das Unfertige, das Stolpern, das Ringen um den Ausdruck. Sprache, erklärte er 1996 bei einem Vortrag über „Performance Writing“, ist nicht wichtig als Text, sondern als Ereignis. Auf der Bühne trägt man sie wie einen geliehenen Anzug, der nicht recht passt, aber Macht verleiht. Diese Entfernung zwischen Körper und Stoff, Darsteller und Text muss sichtbar bleiben. Unübersehbar ist jedoch auch, dass sich das Verhältnis der Gruppe zur Sprache in den letzten Jahren verändert hat. Zwar hat sie noch immer kein Interesse an fertigen Dramen – die Bühne zu nutzen, um eine Interpretation der vielen möglichen eines Textes zu inszenieren, steht ihrem Konzept vom Theater als Ort des Nebeneinanders von Versionen diametral gegenüber. Doch so wie der Referenzpunkt ihrer Arbeit sich von der Stadt zum Bewusstsein verschoben hat, tritt das Visuelle heute in einigen Performances hinter die sprachlich evozierten Bilder zurück.
Angefangen hat diese Entwicklung 1994 mit „Speak Bitterness“, einer sechsstündigen theatralen Beichte. Inspiriert von der Geschichte eines sowjetischen Ehepaares, das mit gültigen Reisepässen in der Hand der Wanze in der Küchenwand noch einmal siegesbewusst alle ideologischen Fehltritte aufzählt, sowie von unzähligen Seelenstrip-Talkshows, bekennen die Performer unaufhörlich Tragisches und Lächerliches im Ein-Satz-Format. „Wir haben abgetrieben. Wir haben Nachbars Katze nicht gefüttert. Wir fühlten uns nicht immer gut in unserer Haut. Wir haben den Faden verloren.“ Die Zuschauer, ebenfalls unter hellen Glühbirnen, konnten während der Veranstaltung kommen und gehen.
Dasselbe offene Prinzip gilt auch für das ein Jahr später entstandene „Quizoola!“. Zwei Personen sitzen auf einer kleinen, unglamourösen Bühne und stellen sich in Etappen abwechselnd Fragen. „Verdient jeder gute Film eine Serie?“ „Ist dein Schwanz größer als dein Hirn?“ „Kommunizieren wir?“ Die Fragen werden vom Blatt gelesen, die Antworten auf der Bühne erfunden, die Frager/Antworter/Darsteller in den sechs Stunden des Spiels mehrmals ausgetauscht. Durch den Wechsel von kurzen und langen Antworten, die Andeutung privater Beziehungen, die Entmaskierung der Spielsituation und das perfide Changieren zwischen Quiz, Verhör und Beichte entsteht in dem statischen Konzept eine verblüffende Energie der zunehmenden Erschöpfung.
Das jüngste Stück dieser Reihe von reinen Sprachspielen ist „Dirty Work“, Ende 1998 entstanden und diesen Monat am Frankfurter Mousonturm erstmals in Deutschland gezeigt. Abgesehen von einem zerschlissenen roten Vorhang so ziemlich allem beraubt, was man gemeinhin unter theatraler Handlung versteht, zeigt „Dirty Work“ einen Mann und eine Frau, die nicht einmal mehr rudimentäre Rollen wie Frager/Antworter spielen. Sie sitzen eine Stunde auf zwei Stühlen und blicken ins Publikum, während sie in Episoden Theater erzählen. Geschichten erzählen. Geschichte erzählen. Welt erzählen.
„Act One begins with five great nuclear explosions. A man delivers a letter to the wrong address, causing months of confusion and unhappiness. There are scenes of betrayal, of confusion and great anguish.“ Sechzig Minuten lang entwerfen sie ganz ruhig Szenen von Terror, Alltag und Krisen, sprechen von der „Titanic“, Tiananmen, Kleinstädten oder kündigen komische Zwischenspiele an. Im Saal in Frankfurt war es unterdessen so still, als würde das Gewicht der evozierten Bilder Füßescharren unmöglich machen. Aber Seufzer, Gelächter und Ekelbekundungen entfuhren den Mündern, und irgendwann hatte man das Gefühl, es mit dem Gegenstück zu einem Stummfilm über den Zirkus zu tun zu haben – „Dirty Work“ ist die Tonspur zum Jahrmarkt des 20. Jahrhunderts.
Der Guardian, der Forced Entertainment schon vor Jahren „das brillanteste unter Englands experimentellen Theatern“ nannte, sieht „Dirty Work“ als ein Werk, „an dem man in zehn Jahren den Wendepunkt britischen Theaters festmachen wird“. So was liest man am Londoner Royal Court Theatre nicht gern, wo alle Zeit und Pfund in Playspotting investiert werden. Einen gewissen ironischen Kick könnte man jedenfalls nicht leugnen, wenn ausgerechnet die Pioniere der Life Art die Erzählung in ihrer reinsten Form wieder auf die Bühnen bringen sollten.
Tim Etchells: „Certain Fragments. Contemporary Performance and Forced Entertainment“. Routledge, London 1999 Nächste Vorstellungen: „Dirty Work“: 24. bis 26. 2. Kampnagel, Hamburg, 29./30. 5. Wiener Festwochen; „Quizoola!“: 26. 2. Kampnagel, Hamburg
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen