: Bewährungsstrafen für fahrlässige Tötung
Zwei S-Bahn-Zugabfertiger, die den Tod eines 23-Jährigen hätten verhindern können, kamen mit Bewährungsstrafen davon. S-Bahn spricht von „bedauerlichem Einzelfall“
Der S-Bahn-Zugabfertiger Dieter H., 43, hätte nur eines tun müssen: Den S-Bahn-Zug im Bahnhof anhalten. Damit hätte er einem 23-jährigen betrunkenen Mann, der kurz vor dem nächsten Bahnhof auf den Gleisen lag, das Leben gerettet. Dieter H. konnte dies wissen, denn er war gewarnt. Doch der Bahnangestellte schickte den verhängnisvollen Zug auf die Reise. Kurz darauf wurde Robert K. überrollt. Er war sofort tot.
Der tragische Vorfall, der sich am 2. Mai 1999 gegen 22 Uhr zwischen den Stationen Lehrter Stadtbahnhof und Bellevue ereignete, hatte gestern für den Zugabfertiger Dieter H. und dessen Kollegin Petra M., 33, ein gerichtliches Nachspiel. Das Gericht erkannte die beiden der fahrlässigen Tötung durch Unterlassung für schuldig und verhängte Freiheitsstrafen von fünf und zwei Monaten auf Bewährung sowie Geldbußen von jeweils 3.000 Mark.
Die Angeklagten hatten sich zu dem Vorwurf nicht geäußert. Im Gegensatz zu ihren Verteidigern, die auf Freispruch plädierten, sah sie das Gericht durch die Aussage einer 28-jährigen Zeugin für überführt an. Die Diplombiologin und Journalistenschülerin Dorte S. hatte am Bahnhof Bellevue in der anfahrenden S-Bahn gesessen, als sie einen angetrunkenen Mann rückwärts über den Bahnsteig torkeln und auf der gegenüberliegenden Seite im Gleisbett verschwinden sah. An der nächsten Station, Lehrter Stadtbahnhof, verließ sie den Zug, um den Zugabfertiger über ihre Beobachtung zu informieren. Doch statt sofort die Sperrung der Strecke zu veranlassen und das Aufsichtspersonal am Bahnhof Bellevue zu informieren, fertigte Dieter H. erst einmal den Zug ab –den Zug, der Robert K. kurz darauf überrollte. Erst dann gab er die Information telefonisch an seine Kollegin weiter, so die Feststellung des Gerichtes. Statt nun ihrerseits sofort tätig zu werden – es wäre Zeit genug gewesen, den Zug über Funk anzuhalten –, warf sie nur einen prüfenden Blick aus dem Aufsichtshäuschen auf Bahnhof und Gleise. Den in der Kurve liegenden Robert K. konnte sie von dort aus nicht sehen.
Die Verteidiger hatten in dem Prozess versucht, den Spieß umzudrehen. Die Zeugin hätte sofort die Notbremse ziehen müssen, meinten sie. Außerdem behaupteten sie, sie habe sich gegenüber dem Zugabfertiger so unklar ausgedrückt, dass dieser der Meinung gewesen sei, es sei ein Mann auf dem Bahnhof gestürzt und nicht auf die Gleise. Die Zeugin war sich ihrer Sache jedoch ziemlich sicher. Der Zugabfertiger habe entgegnet, auf dem anderen Bahnhof „ist auch noch eine Aufsicht, die hat das sicher gesehen“. Das sei „nicht sein Ding“. Daraufhin habe sie nicht weiter insistiert. „Ich habe gedacht, ich habe mich mal wieder nicht großstadtmäßig verhalten und war zu uncool“, sagte die aus Jena stammende Zeugin.
Der Richter stellte fest: „Ein Missverständnis scheint mir ausgeschlossen.“ Der Zugabfertigerin hielt er zugute, dass die Information durch die telefonische Übermittlung vielleicht nicht in vollem Umfang angekommen sei. Aber sie hätte das Aufsichtshäuschen verlassen und die Gleise in beiden Richtungen kontrollieren müssen. Ein Sprecher der S-Bahn sprach nach Prozessende von einem „bedauerlichen Einzelfall“. Immerhin würden täglich 56.000 Züge sicher abgefertigt. Plutonia Plarre
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen