■ Kolumne
: Wodka fürs Medienproletariat

Ich stand neben meinem Freund Nago Hountohué auf der Toilette im Better Days Project. Aus der Einzelzelle erklang die Stimme des Lifestyle-Fotografen Arnold Stelters: „Nein, Liebling, meine Handykarte kannst Du nicht nehmen. Die heißt nur Karte, die kannst du nicht herausziehen wie eine Kredit...“. Er schniefte laut, dann begann ein Mobiltelefon zu klingeln. In der Einzelzelle rumpelte es, jemand hustete, stieß gegen die Wand, ein Mädchen rief „Aua!“, Stelters bellte: „Verdammt, das ganze...“, dann dämpfte er seine Stimme und meldete sich: „Stelters. Sorry, ich war gerade in einem Meeting.“ Beim Herausgehen fragte ich Nago: „Wie konnte ein solcher Proll einer der erfolgreichsten Fotografen der Stadt werden?“

An der Theke bestellten wir zwei Wodka mit Organgensaft. „Stelters gehört zum Medienproletariat“, sagte Nago. „Wer gehört da heute nicht dazu“, antwortete ich. „Hast Du Dir einmal überlegt, wie Medienproletarier leben?“, fragte Nago. „Sie kommen von der Arbeit nach Hause, machen den Fernseher an, dann gehen sie in die Kneipe, schimpfen über den Chef, trinken, geben an, gehen wieder nach Hause und am Morgen zur Arbeit – nur schauen sie im Fernsehen nicht die Sportschau, sondern einen Boxkampf auf Premiere World; nennen ihren Chef nicht Kapo, sondern Ressortleiter; geben nicht an mit dem Hubraum ihres Manta, sondern mit dem Kurs ihrer Wertpapiere; statt auf die Lottozahlen schauen sie auf den Dax; sie trinken keinen Schinkenhäger, sondern Caipirinha. Die Medienproletarier unterscheiden sich lediglich in einem von den Arbeitern der prä-digitalen Zeit, die sie als Prolls verachten: Sie können sich die gleichen Klamotten leisten wie ihre Vorgesetzten und weil sie ein paar Vorzugsaktien haben, glauben sie sogar, dass ihnen die Fabrik, die jetzt Agentur heißt, mitgehört.“

Nika kam zur Tür herein. Sie trug lauter neue Sachen: einen Wildledermantel, ein rotes T-Shirt, einen grauen Rock und schwarze Stiefel. „Du siehst fabelhaft aus. Wir würden Dich zum Essen einladen, wenn Lennart nicht wäre“, lobten wir sie. „Das könnt ihr. Der ist mit Mina in den Urlaub geflogen.“ – „War Mina nicht die Freundin von Arnold Stelters?“ fragte ich Nika. „War Lennart nicht mein Freund?“, fragte mich Nika. „Habt ihr gelesen, dass Stelters sich die Schamhaare abrasiert“, nuschelte der Rockjournalist Henning Stelters, der sich zwischen uns gedrängt hatte und an der Theke mit fahrigen Gesten nach der Kellnerin winkte.

„Wie konnte Lennart sich einen Urlaub leisten?“, fragte ich. Nika erzählte, dass Lennart vor kurzem bei einer Online-Agentur angefangen hatte. Dort wurden gerade Vorzugsaktien an die Mitarbeiter ausgegeben und als die innerhalb von zwei Wochen ihren Wert verfünffachten, habe er schnell wieder gekündigt. „Wo ist er hingeflogen?“ – „In die Dominikanische Republik.“ – „Dieses Proll-Reiseziel?“ Nika zuckte mit den Schultern. „Und wie konntest Du Dir die neuen Sachen leisten?“ – „Meine Mutter hat im Lotto gewonnen. Da ist sie mit mir einkaufen gegangen.“ Nago grinste und drückte jedem von uns einen Wodka mit Orangensaft in die Hand.

Sebastian Hammelehle