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Genscher heißt niemand ■ Von Rayk Wieland

Wir alle kennen sie und wissen aus Presse, Funk und Fernsehen nur zu gut, dass es sie gibt, dass sie Arbeit haben und dass sie ihr Leben verbringen müssen mit grauenhaften Sitzungen, endlosen Palaver-Einheiten und der Fabrikation von albernen Textbausteinen – unsere Politiker. Wir kennen sie und wissen um ihr glanzfreies Image, das zwischen dem von Lehrerschaft und Verkehrspolizei oszilliert. Warum es sie gibt und nicht vielmehr nicht gibt, warum sie, was sie machen, machen, ob ohnmächtig oder machtbesessen, freiwillig oder aus Pflichtgefühl, ferngesteuert oder selbsttätig – keiner weiß es, keiner kann’s ergründen. Gründe gibt’s bekanntlich für alles, aber dafür, sich auf eine Politikerumlaufbahn zu begeben, gibt’s offensichtlich keine. Keine? Wirklich keinen einzigen?

Oha, einen gibt’s natürlich doch, einen einzigen, halbwegs plausiblen Grund, sich dieses ominös-dubiose Joch aufzuerlegen und bei allen rechtschaffenen Menschen unbeliebt zu machen, seine Familie zu ruinieren und das Leben eines Vorzeigeversagers zu führen – nämlich den, eventuell mal einst für einen Straßennamen in Betracht zu kommen. Das ist der Traum des Politikers, seine kaum gezügelte Begierde, das Ziel aller Wünsche: dass seine Vaterstadt die bislang nach einem Ahorngewächs benamste Verbindungsstraße zwischen dem Kennedypfad und der Stresemanngasse nach ihm, dem Politiker, benennt, und wenn’s geht, schon zu Lebzeiten. Das ist die heimliche Vision, ach was, der Endsieg eines jeden Politikerlebens. Wer das erreicht, ist ohne Zweifel einer der ganz großen Bigplayer – doch nur einzelnen Ausnahmechefs gelingt dies. Zu den wenigen Topleuten gehören bekanntermaßen Stalin und Ulbricht, die zahllose Straßennamen okkupieren konnten, wenn sie ihnen auch nach dem Tod wieder entrissen werden mussten. Und zu ihnen zählen auch Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher, nach denen nicht irgendeine, sondern die Hauptstraße in der Weltmetropole Trogir an der kroatischen Adriaküste, die Kohl-Genscher-Straße, benannt ist. What a wonderful world!

Aber, leider, leider, müssen die beiden Gekrönten bangen, dieser nobelpreisadäquaten Auszeichnung verlustig zu gehen und lebendigen Leibes entehrt zu werden. Denn die Kohl-Genscher-Straße in der Weltmetropole Trogir soll umbenannt werden und wieder ihren früheren Namen erhalten, Gradska ulica, was etwa mit „Größere Straße“ übersetzt werden könnte. Der Grund: die leidige CDU-Spendenaffäre. Welche Tragik, welche Schande, ja welche Schändung wäre dies, zumal der Name Genscher im gegenwärtigen Skandal nun überhaupt keine Rolle spielt! Kohl, okay, der hätte sich das selber zuzuschreiben und könnte auch gelassen bleiben, da noch eine Roulade seinen Namen trägt. Aber Genscher? Genscher heißt niemand. Müsste da nicht Außenminister Joschka Fischer tätig werden, um diesen nicht nur die Interessen der Bundesrepublik rabiat verletzenden, sondern auch eine komplette Politikervita im Handstreich auslöschenden Straßennamenraub zu verhindern?

Aber ja, aber schnell und im eigenen Interesse eilig / denn wie dem Affen sein Zucker, der Zucker der Dose und der Dose ihr Stecker, so ist dem Politiker sein glorreicher Straßenname heilig.

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