: Gesucht: Mädchen, groß, schlank, 14-jährig
Beim Straßencasting in Berlin kann ein Satz das große Glück bedeuten: „Entschuldigung,darf ich dich mal kurz was fragen?“ Ein Hund nimmt vielen Angesprochenen die Hemmung
Sie fällt nicht weiter auf im Menschengedränge in der Einkaufspassage. Dort, wo die Leute Ausschau nach Klamotten halten, einkaufen, bummeln, stöbern, dort geht auch die zierliche Frau mit dem Hund und der riesigen Umhängetasche auf die Suche. Sie sieht jünger aus als 30, mädchenhaft, die dunklen Haare straff zum Zopf gebunden, kaum geschminkt, mit großen grünen Augen, die ständig in Bewegung sind. Doch in den Läden sucht sie nicht nach Pullis. Die aufgetürmten, salatverzierten Brötchen an den Imbissständen interessieren sie nicht. Sie mustert die Menschen, die sich an diesem Samstag durch die Schönhauser-Allee-Arkaden schieben. Silke Holzbog entdeckt Menschen – für Modefotos, für Werbespots, für Filme. „Entschuldigung, kann ich dich mal kurz was fragen?“ Silke nähert sich einem blonden Mädchen, das in der Damenabteilung eines Kaufhauses gerade die nächste Reihe Hosen anpeilt. „Ich mache Straßencasting. Du weißt, was das ist?“
Sie sagt das leise, zurückhaltend. Es dauert ein wenig, bis Silke Holzbog jemanden anspricht. Der laute, schnelle Auftritt ist ihre Sache nicht. Das Mädchen stoppt, wird rot, lächelt scheu. Sie hat ein ebenmäßiges Gesicht, hell mit schwarz getuschten Augen. Es fällt nicht schwer, sie sich als Schönheit auf einem Titelblatt vorstellen. Luise ist 14 und schon mal bei einer Fete auf Casting angesprochen worden. „Das war ein bißchen peinlich, lauter Leute drumrum“, erzählt sie. Diesmal ist sie sofort einverstanden. Als Silke den Fotoapparat aus ihrer Tasche zieht und Luise all der Rolltreppe fotografiert, geschieht das unauffällig. „Ich brauche nur noch deinen Namen und Adresse“, sagt Silke und lächelt entschuldigend.
Ein älterer Herr tritt an Luise heran. Sie wird schon wieder rot. „Das ist mein Opa.“ – Doch den älteren Herren interessiert gar nicht, was Silke macht. Ihm gefällt Lili, Silkes kleiner französischer Rottweiler. „Wird der noch größer?“ Silke gibt sich einen Ruck und fragt Luises Großvater, ob sie ihn denn auch fotografieren dürfte. Manchmal brauche sie gerade ältere Männer für Projekte. „Nein“, sagt der, schnell und laut. Bei der Enkelin sei das o.k., aber er wolle nicht. Silke bedauert, wünscht einen schönen Tag, herzlich, professionell, ohne sichtbare Enttäuschung. Ältere Herren seien besonders schwierig zu kriegen, kaum einer ließe sich fotografieren, sagt sie. Sie zieht die unwillige Lili an der Leine hinter sich her. „Ich kann verstehen, dass viele Leute auf der Straße nicht angesprochen werden wollen. Ich will es auch nicht“, sagt sie später. Deswegen nimmt sie ihren Hund oft auf Touren mit. „Ein Hund nimmt vielen Leuten die Anfangshemmungen.“
„Ist manchmal schon komisch – sich nur die Menschen anzugucken“, sagt Silke, nachdem sie die nächste Boutique in zwei Minuten durchquert hat. „Schlimm ist, wenn man einen Auftrag hat und ganz bestimmte Typen braucht. Dann findet man unter Garantie keinen. Zwei Tage später laufen sie einem haufenweise über den Weg“.
Heute will sie Leute ansprechen, die sie in ihre Kartei aufnehmen kann: Mädchen, groß, schlank, jung, 14-, 16-Jährige. Aber auch Rentner, Hausfrauen, Kinder. Im nächsten Laden stehen die übervollen Kleiderständer dicht gedrängt im Neonlicht. Silke fällt auf. Sie ist zu alt für solche Läden. Sie spricht keines der jungen Mädchen an.
Sie erzählt von „komischen Angeboten“ in der Branche, bei denen die Gecasteten für ihre Fotos zahlen müssen, von Castern, die großartige, leere Versprechungen machten, von der eigenen Verantwortung gegenüber ihren Modellen. „Ich möchte nicht, dass unsere Mädchen zu viel arbeiten, bis sie 16, 17 sind. Ich will nicht dafür verantwortlich sein, wenn eine die Schule schmeißt.“
Silke versucht an einer Rolltreppe ihr Glück. Wie auf einem Fließband fahren die Menschen an ihr vorbei. „Praktisch, so ne vollbesetzte Rolltreppe“, sagt sie und muß lachen. Aber es ist niemand dabei, der ihr gefällt. Dafür läuft eine tütenschleppende Mutter mit einem schlaksigen, halbwüchsigen Sohn an Silke vorbei. Sie muss die beiden aus den Augenwinkeln heraus registriert haben. Jäh wendet sie sich, schaut ihnen hinterher. Der Junge ist vielleicht 15 Jahre alt, trägt aufgeblähte Turnschuhe. Er macht einen Schritt, wo seine schwer bepackte Mutter drei braucht. Glänzende Jacke, ungelenk schlenkernde Arme, kurze Haare, Pickel im Nacken. „Ich bin immer noch auf solche Typen fixiert“, sagt Silke. Nachwirkung ihres letztens Auftrags. Da suchte sie Jugendliche für einen Film über soziale Brennpunkte. In sozialen Brennpunkten, zum Beispiel den großen Plattenbau-festungen im Osten. Sie ist gerne dort. „Die Menschen sind da irgendwie anders, unverbrauchtere Gesichter“, findet Holzbog. Heute setzt sie dem Jungen nicht nach. Sie kramt in der Tasche nach dem Handy und versucht ihre Partnerin Tatjana anzurufen, um ein Treffen abzusprechen. Die hat bis lang auch nicht viele Fahndungserfolge gehabt. „Only ugly peolpe“, hat Tatjana beim letzten Treffen mit Silke gestöhnt und eine Grimasse gezogen. Als ihr Silke im Display des Fotoapparats die Aufnahme von Luise gezeigt hat, war sie allerdings begeistert. Das Handy kriegt keine Netzverbindung. Silke Holzbog hat keine Lust mehr, sie schaut immer mehr in die Auslagen und immer weniger auf die Menschen. Lili trottet schon seit einer ganzen Weile brav und apathisch nebenher. Bis die beiden an einer Fleischerei vorbeikommen. Bratengeruch, essende Menschen an Bistrotischen, das Zischen von Fett. Lili zerrt in Richtung Theke. Silkes Blick klebt an einer Mutter mit drei Jungen, begeistert. Alle vier stehen um einen dieser brusthohen weißen Plastiktische aufgereiht, vor sich Pappteller mit Ketchup und essen Wurst. Silke gesellt sich dazu, Lili vertieft sich in die Reste am Boden. „Hallo, ich bin Silke. Ich mache Casting für Werbefilme.“ Sie will die Jungen, die der Größe nach geordnet im Halbkreis stehen, der jüngste ist acht, neun Jahre alt. Der verzieht sich in Richtung seiner Mutter. Die beiden älteren gucken demonstrativ verständnislos. Aber als die Casterin ihnen die Sache erklärt und von dem Musikclip erzählt, für den sie das letzte Mal Jungen wie sie ausgesucht hat, vergessen die beiden ihre Wurstreste. „Aber ich habe nicht viel Zeit“, wendet der Ältere ein, zögernd, aber interessiert. – „Es kann sein, dass wir euch gar nicht brauchen. Oder vielleicht ein- bis zweimal im Jahr. Ich kann euch gar nichts versprechen. Wenn ihr wollt, machen wir jetzt ein Foto.“ Silke wird direkt: „Du bist der Typ ,Frecher Bengel‘.“ Der ältere guckt wieder verständnislos. „Du bist ungefähr 11. Oder 13?“ Der Junge ist empört. Silke entschuldigt sich. Beim Fotografieren dirigiert sie die beiden freundlich: mal mit Mütze, mal ohne, ungestellt und in der Pose „Wir beide“: Stirn an Stirn, tiefer Blick in die Augen des anderen. Dann notiert sie die Namen von Alexander und Dirk.
Ob was draus wird? Der nächste Schritt ist eine Einladung zum Videocasting bei der Agentur. Auf der Straße, sagt Silke: Ich will den Leuten nicht zu viel versprechen.“ Sagts und taucht im Strom der Fußgänger ein. Ab jetzt mustert sie die Leute nicht mehr. Ihre Blicke sind Privatsache. Tina Heidborn
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen