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Ohne polnische Pendler geht nichts

Armutsgrenze Europa: Die Zahl der Arbeitsmigranten aus dem benachbarten Polen hat sich in Berlin auf hohem Niveau eingependelt. Bauarbeiter und Putzfrauen sind aber noch immer rechtlos, meint Norbert Cyrus vom Polnischen Sozialrat

Interview UWE RADA

taz: Soeben hat die Weltarbeitsorganisation ILO eine Studie veröffentlicht, der zufolge nicht mehr die amerikanisch-mexikanische Grenze das größte Armutsgefälle aufweist, sondern die deutsch-polnische Grenze. Überrascht Sie das?

Norbert Cyrus: Nein. Diese Unterschiede zwischen Deutschland und Polen sind schon seit langem bekannt. Es muss allerdings differenziert werden. So hat sich das Kaufkraftgefälle von eins zu dreißig vor dem Fall der Mauer auf eins zu zehn Ende der Achtzigerjahre und mittlerweile auf eins zu drei verringert. Auf der anderen Seite handelt es sich um Durchschnittswerte. Sowohl in Polen als auch in der Bundesrepublik gibt es große Einkommensunterschiede. Es kommt also immer auf den Einzellfall an.

Wie groß ist das Lohngefälle?

In Polen erzielt man im Baugewerbe umgerechnet etwa 300 bis 400 Mark im Monat, in Deutschland sind es bis zu 2.000 Mark auf die Hand, immer vorausgesetzt, dass der Lohn tatsächlich gezahlt wird.

Die Berliner Ausländerbeauftragte Barbara John spricht von einer Zahl von etwa 100.000 Pendlern, die sich in Berlin aufhalten. Ist das realistisch?

Letzten Endes gibt es keine ausgewiesene sachliche Begründung, wie man auf diese Zahl kommt. Schließlich wird die Zahl polnischer Pendler statistisch nicht erfasst. Die Schätzung zeigt aber, dass die Pendlermigration in erheblichem Maße stattfindet. Diese Menschen sind aber nicht alle gleichzeitig in Berlin, es ist vielmehr ein ständiges Kommen und Gehen.

Gibt es Anzeichen dafür, dass die Zahl der polnischen Pendler in den vergangenen Jahren gestiegen ist?

Es gibt Angaben der polnischen Grenzpolizei, wonach die Zahl der touristischen Auslandsreisen von Polen nach Deutschland von 8 Millionen Anfang der 90er-Jahre auf 18 Millionen Mitte der 90er gestiegen ist. Diese Zahl hat sich seitdem stabilisiert. Man kann das auch als Indikator nehmen, dass sich die Pendlerzahl auf hohem Niveau eingependelt hat. Das hängt immer auch von den Arbeitsmöglichkeiten ab. Auch die Aussagen von Pendlern selbst deuten darauf hin, dass die Arbeitsmöglichkeiten inzwischen so gut wie ausgeschöpft sind. Schließlich muss man bedenken, dass auch der informelle Arbeitsmarkt nur einen bestimmten Umfang hat.

Wie sieht der Alltag von polnischen Pendelmigranten aus?

Es gibt zwei typische Muster. Das eine lautet, alles geht gut. Die Menschen gehen zur Arbeit, bekommen ihren Lohn, gehen abends in ihre Unterkunft und fahren, je nachdem, wo sie herkommen, am Wochenende oder nur einmal im Monat zu ihrer Familie nach Polen. Man könnte sagen, sie sind, wie viele Deutsche auch, auf Montage. Auf der anderen Seite kann es auch extreme Problemlagen geben. Die Pendler haben weder Sozialversicherungen, noch sind sie krankheits- oder unfallversichert. Bei Krankheiten können sich Polen noch in ihrer Heimat behandeln lassen. Bei Unfällen und bei Betrug bestehen aber nur geringe Möglichkeiten, aus dieser Problemlage herauszukommen.

Ist die Politik in Berlin überhaupt auf dieses Wohlstandsgefälle vorbereitet?

Letzten Endes funktioniert es ja. Es hat ja schon eine gewisse Alltäglichkeit erreicht. Auf der einen Seite tragen die Betroffenen die Risiken, und die Politik thematisiert das Thema nur, wenn es etwa um die Arbeitslosigkeit im Baubereich geht. Das mag auch damit zu tun haben, dass die Polen und Polinnen längst ihren Platz in der Berliner Wirtschaft haben, nicht nur im Baubereich, sondern auch bei den privaten Dienstleistungen. Hier wird ein gewisser Lebensstil durch diese Arbeit ja erst möglich gemacht. Aber das betrifft nicht nur Polen, sondern auch andere Arbeitsmigranten. Das ist letzten Endes keine Frage der Nationalität, sondern der Bereitschaft, zu solchen Bedingungen zu arbeiten.

Wie könnte die Situation der Pendler verbessert werden?

Wegen der Rechtlosigkeit der Pendler müsste in bestimmten Notlagen auf eine Statusfeststellung verzichtet werden. Diese Forderung richtet sich nicht nur an Krankenhäuser und Ärzte, sondern auch an Arbeitsgerichte, wenn es zum Beispiel darum geht, dass Arbeitsimmigranten ihren Lohn einklagen können.

Was wird der EU-Beitritt Polens für Berlin bedeuten?

Seitdem seit 1991 die visumfreie Einreisemöglichkeit besteht, ist die Grenze für Polen praktisch offen. Das gilt auch für die Einreise mit dem Ziel einer informellen Beschäftigung. Da die Arbeitsmöglichkeiten aber schon weitgehend besetzt sind, glaube ich nicht, dass sich da viel ändern wird. Es könnte aber sein, dass einige Arbeitsverhältnisse regularisiert werden. Viele der im informellen Sektor beschäftigten Polen hoffen darauf. Es gibt aber auch andere Prognosen. Die IG BAU befürchtet zum Beispiel, dass mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit in der polnischen Landwirtschaft infolge des EU-Beitritts etwa zwei Millionen Polen nach Deutschland kommen. Das muss aber bezweifelt werden. In der Migrationsforschung wird davon ausgegangen, dass Arbeitsmigration sehr stark durch Beziehungen vermittelt ist, die man braucht, um einen Job zu finden. Auf gut Glück kommen die wenigsten hierher.

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