: „Deutschland braucht keine PDS, Herr Gysi“
Interview JENS KÖNIGund PATRIK SCHWARZ
taz: Herr Müntefering, der Umgang mit Populisten ist in diesen Tagen ja nicht ganz unumstritten. Warum setzen Sie sich mit Gregor Gysi an einen Tisch?
Franz Müntefering: Warum sollte ich mich nicht mit ihm an einen Tisch setzen? Wir sind politische Konkurrenten, und es gehört zur Demokratie dazu, dass man sich der öffentlichen Debatte stellt. Ich habe keine Probleme, mit Gysi zu reden.
Wer mit Populisten diskutiere, der könne nur verlieren, heißt es.
Müntefering: Wissen Sie, ich glaube an die Kraft der Argumente, und die SPD hat gute Argumente, sonst hätten wir die Bundestagswahlen im Herbst 1998 nicht gewonnen, sonst hätten nicht so viele Menschen Vertrauen in unsere Politik. Ich wüsste nicht, warum ich vor einer Auseinandersetzung mit Gysi Angst haben sollte, im Gegenteil.
Ist Gysi ein Populist?
Müntefering: Die PDS ist eine populistische Partei, und Gregor Gysi verkörpert diesen Populismus auch in seiner Person in hohem Maße.
Herr Gysi, Sie gehen hier als linker Haider weg. Sind Sie jetzt beleidigt?
Gregor Gysi: Der Vergleich mit Haider ist völlig absurd. Auf der Basis habe ich keine Lust, weiter zu diskutieren.
Warum?
Gysi: Haider ist ein Rechtsextremist. Ich dachte eigentlich, dass alle Parteien im Bundestag sich einig seien, gemeinsam gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit vorzugehen.
Müntefering: Der Vergleich mit Haider stammt nicht von mir, Herr Gysi. Ich habe über den Populismus Ihrer Partei gesprochen. Das hat mit dem, was in Österreich passiert, überhaupt nichts zu tun, da gebe ich Ihnen völlig Recht.
Gysi: Ich weiß, das ist die infame Linie der taz. Im Übrigen, in der SPD gibt es zum Glück ja keinen Populismus.
Müntefering: Ich wollte nicht so verstanden werden, als sei die PDS die einzige Partei, die auf populistische Effekte setzt. In gewisser Weise steckt in jeder Politik ein Schuss Populismus.
Es soll ja sogar Regierungschefs geben, die den Populismus zu ihrem Programm erhoben haben. Wie heißt gleich noch mal der Experte dafür in der SPD?
Müntefering: Gerhard Schröders Politik ist nicht populistisch, sondern populär.
Gysi: Interessante Umschreibung. Was ist eigentlich so schlimm daran, populistisch zu sein? Man fordert doch nur etwas, was viele Menschen ähnlich sehen. Und diejenigen, die anderen Populismus vorwerfen, geben damit meistens nur zu, dass sie nicht in der Lage sind, dem Wunsch einer gesellschaftlichen Mehrheit zu entsprechen.
Müntefering: Die PDS verbreitet Illusionen, Herr Gysi, das ist das Problem. Sie erheben Forderungen, die sich entweder nicht finanzieren lassen oder die unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in Frage stellen.
Gysi: Die SPD bezeichnet unsere Vorschläge für mehr soziale Gerechtigkeit immer dann als populistisch, wenn sie sie nicht finanzieren will.
Müntefering: Das ist doch Quatsch. Keiner hat von Anfang an die Wahrheit auf seiner Seite. Aber das Problem von SPD und PDS ist ein anderes: Es gibt keine gemeinsame Grundlage für einen politischen Streit. Linke oder fortschrittliche Politik bedeutet für die PDS möglichst hohe Sozialhilfe und billige Fahrpreise. Das ist Unsinn. Wenn Sie regieren müssten, Herr Gysi, würden Sie auf der Stelle scheitern.
Gysi: Das glaube ich kaum. Als SPD und Grüne die Erhöhung des Kindergeldes beschlossen, hatten Sozialhilfempfängerinnen zunächst nichts davon, weil ihnen das erhöhte Kindergeld auf die Sozialhilfe angerechnet wurde. Es war die PDS, die bereits Anfang 1999 auf diesen Missstand hinwies. Die Grünen haben sich von unseren Argumenten überzeugen lassen und gemeinsam mit der SPD die Regelung geändert. Seit dem 1. Januar 2000 kommt die Kindergelderhöhung den Sozialhilfeempfängerinnen wirklich zugute. War unsere Forderung etwa blanke Illusion?
Die Auseinandersetzung, die Sie beide gerade führen, scheint uns typisch für das Verhältnis Ihrer Parteien. Gysi und seine Genossen profilieren sich als Erben der Schröder-SPD. Hat die PDS den Sozialdemokraten ihr wichtigstes Thema weggenommen: die soziale Gerechtigkeit?
Müntefering: Nein, überhaupt nicht. Soziale Gerechtigkeit hat in der Politik der Sozialdemokraten nach wie vor einen hohen Stellenwert.
Es gab Zeiten, da hat Schröder das Wort nicht mal in den Mund genommen.
Müntefering: Man muss den Menschen vermitteln, dass soziale Gerechtigkeit eben mehr ist als die unmittelbare Verteilungsfrage. Wer Gerechtigkeit herstellen will, der muss zuallererst die Arbeitslosigkeit bekämpfen, und er muss sagen, wie das hohe Niveau unseres gesellschaftlichen Wohlstands auch noch in 20 oder 30 Jahren gesichert sein kann.
Gysi: Genau.
Müntefering: Ja, aber auf diese Fragen hat die PDS keine Antworten. Soziale Gerechtigkeit ist für sie nur eine Frage von Sozialpolitik, von Umverteilung von oben nach unten. Wer aber den Wohlstand auf Dauer sichern und soziale Gerechtigkeit nicht in einem armen Land herstellen will, der muss Teile unseres Reichtums in die Zukunft investieren. Dazu gehören die Qualität des Standorts Deutschland, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen sowie – besonders wichtig – Bildung und Ausbildung.
Gysi: Trotzdem kommt unsere Gesellschaft um eine Erkenntnis nicht herum. Die Abstände in unserer Gesellschaft werden immer größer. Der Reichtum wächst, gleichzeitig nimmt die Armut zu. Dieser Prozess muss umgekehrt werden. Das hat etwas mit Verteilungsgerechtigkeit zu tun. Die rot-grüne Bundesregierung trägt aber nichts dazu bei. Sie macht eine Sparpolitik auf Kosten der finanziell Schwächeren.
Müntefering: Indem sie das Kindergeld erhöht, die Lohnnebenkosten senkt und die Rentenkürzung zurücknimmt.
Gysi: Ja, zum Beispiel durch die Reduzierung der Rentenanpassung an die Inflationsrate.
Herr Gysi, Sie tun so, als hätte es 1998 gar keinen Regierungswechsel gegeben.
Gysi: Natürlich hat sich einiges verbessert, anderes verschlechtert. Eine Menge rot-grüner Maßnahmen sind Ja-aber-Gesetze. Vieles kann die PDS im Prinzip unterstützen, im Detail haben wir etliches zu kritisieren. Und diese Leier von der Standortpolitik erinnert mich an die Kohl-Regierung. Die Frage des Standorts ist doch nicht nur eine Frage der Kosten. Wenn es darum ginge, müssten alle Unternehmen längst im Tschad sein.
Gysi redet jetzt wie Lafontaine zu Zeiten der Kohl-Regierung. Beschreibt das nicht genau das Dilemma der SPD: Seit Sie an der Regierung sind, werden Sie mit den Argumenten aus Ihrer eigenen Oppositionszeit geschlagen?
Müntefering: Ich sehe kein Dilemma, und die Argumente ziehen auch nicht. Die Zustimmung der Bevölkerung zu unserer Politik wächst.
Gysi: In den Umfragen. Bei den Wahlen in Ostdeutschland oder in Hessen hielt sich die Zustimmung zur SPD sehr in Grenzen.
Müntefering: Die Menschen merken, dass wir auf dem richtigen Weg sind, dass sich unser Land vorwärts bewegt.
Gysi: Das hört sich schon wieder nach Kohl an.
Müntefering: Für Sie vielleicht. Was ich bei Ihnen vermisse, Herr Gysi, ist die Ehrlichkeit. Man muss den Menschen heute offen sagen, dass Veränderungen notwendig sind, auch schmerzhafte Einschnitte. Nur dann werden wir unseren Wohlstand halten.
Gysi: Aber Milliardensteuergeschenke sind möglich.
Müntefering: Sie gaukeln den Leuten immer noch vor, dass der Staat alles für sie regelt. Aber die Zeiten sind vorbei. Der Staat muss die Leistungsbereitschaft der Menschen fördern. Selbst wenn das jetzt nicht freundlich klingt: Auch wer keine Arbeit hat, muss sich anstrengen.
Sagen Sie das mal einem SPD-Wähler, der keine Arbeit hat.
Müntefering: Wir geben jedes Jahr 170 bis 180 Milliarden Mark für Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe aus und sagen gleichzeitig: Ihr dürft dafür nichts tun, sonst bekommt ihr das Geld nicht mehr. Das ist ein völlig verrückter Ansatz. Einen Teil des Geldes sollte man direkt einsetzen, um die Menschen wieder in Lohn und Brot zu bringen.
Gysi: Das Schwierige ist ja gerade, dass keine Partei ein Patentrezept für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hat. Dazu ist die Welt mittlerweile viel zu kompliziert. Man braucht einen Komplex von Maßnahmen. Die Wirtschaft funktioniert nicht mehr wie zu Zeiten von Karl Marx.
Müntefering: Schön, dass Sie das sagen.
Gysi: Aber wenn es kein Patentrezept gibt, kann man sich nicht wie Schröder hinstellen und sagen: Meine Politik ist alternativlos. Alternativen gibt es immer.
Müntefering: Wir haben gesagt, wer das will, was wir wollen, kann keinen anderen Weg gehen.
Gysi: Sie haben gesagt: alternativlos. Und das heißt, egal wer gerade regiert, ob Kohl, Schröder oder Gysi, man kann sowieso nichts anders machen.
Herr Müntefering, haben Sie das Gefühl, hier redet ein verkappter Sozialdemokrat mit Ihnen?
Müntefering: Das ist ja eine richtige Fangfrage.
Gysi: Sagen Sie jetzt bloß nicht Ja, sonst bin ich in meiner Partei unten durch.
Müntefering: Gregor Gysi und ich sind in sehr unterschiedlichen Parteien. Die Arbeiterbewegung musste sich irgendwann zwischen zwei Wegen entscheiden. Mit dem Niedergang des Kommunismus ist klar geworden, dass die Sozialdemokraten die richtige historische Entscheidung getroffen haben. Das es heute trotzdem eine Partei wie die PDS gibt, daran ist nichts zu ändern. Die SPD jedenfalls hat nichts Grundsätzliches nachzuholen und zu korrigieren.
Gysi: Aber Sie meinen nicht etwa, dass die Entwicklung der Sozialdemokratie fehlerfrei gewesen wäre?
Müntefering: Nein, und ich glaube auch nicht, dass wir im Westen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus fertige Konzepte für die Probleme der modernen Gesellschaften haben. Aber die SPD hat ja die Bundestagswahlen nicht deshalb gewonnen, weil sie etwa das bessere Rentenkonzept hatte, sondern weil Schröder und Lafontaine den Menschen eine ganz andere Perspektive für die Zukunft gegeben haben als Kohl.
Gysi: Aber Lafontaine ist nicht mehr da. Jetzt haben Sie nur noch Schröder. Der verändert mit seiner Politik der neuen Mitte die ganze Richtung der Sozialdemokratie und lässt links eine Lücke.
Müntefering: Die Sache mit der politischen Mitte, über die Sie, Herr Gysi, sich immer lustig machen, trifft die Stimmung in unserer Gesellschaft. Es gibt eine weit verbreitete Sehnsucht nach Sicherheit. Die Menschen wollen keine Extreme. Extreme kann man sich nur leisten, wenn man eine Revolution machen will.
Ist die PDS eine extreme Partei?
Müntefering: Nein. Aber die Gesellschaft wird in der Mitte zusammengehalten, und die Mitte sind wir. Die Sozialdemokraten entwickeln eine Leitlinie für das, was vor uns liegt. Ich kann da so gut wie nichts entdecken, was die PDS dazu beiträgt – die CDU im Übrigen auch nicht. Es gibt doch zwei große, konservative Blöcke in Deutschland. Der eine heißt CDU/CSU, der andere PDS. Dazwischen stehen wir Sozialdemokraten und müssen gucken, dass wir den Weg nach vorne finden.
Gysi: Na ja, was den Konservatismus betrifft, da hat die SPD einiges zu bieten, heute nicht weniger als früher.
Sie beide scheinen ja übereinander genau Bescheid zu wissen.
Gysi: Gerade kulturell sind wir uns ähnlich. SPD und PDS sind Parteien mit Fahnen, Liedern und Symbolen und insofern eine komische Mischung aus Kulturpsychologie und Politik. Parteien wie die FDP sind sehr rationale Angelegenheiten. Da genügt es, wenn man auf einem Parteitag mittels Logik versucht, die Leute zu überzeugen. Das würde in der SPD oder der PDS nie ausreichen. Dort macht die rationale Seite höchstens 40 Prozent aus. Gewinnen kannst du nur, wenn du auf Emotionen setzt, und das ist viel schwieriger.
Müntefering: Aber auch spannender.
Gysi: Und es macht mehr Spaß.
Also haben Sie doch mehr gemeinsam, als Sie zugeben.
Gysi: Wir unterscheiden uns in der zentralen Frage. Die SPD hat sich zu einem bestimmten Zeitpunkt damit abgefunden, dass in der Gesellschaft Kapitalverwertungsinteressen dominieren. Wir streben eine Gesellschaft an, in der die sozialen und kulturellen Interessen der Menschen im Mittelpunkt stehen.
Müntefering: Das ist bei Ihnen doch nur eine Floskel. Sie wissen gar nicht, wie Sie das anstellen sollen.
Gysi: Die Sozialdemokraten in Europa haben sich vom Wettbewerb um Demokratie und soziale Gerechtigkeit weitgehend verabschiedet. Sie fragen nicht länger: Sind wir demokratischer und sozialer als Spanien oder Frankreich. Sie fragen nur noch: Bieten wir der Industrie den günstigeren Standort als Spanien oder Frankreich?
Woran fehlt es in Deutschland? Jetzt sagen Sie bloß nicht, an einer Partei wie der PDS.
Gysi: Bis 1989 gab es in der Bundesrepublik nie eine nennenswerte Kraft links von der Sozialdemokratie. Das war in Frankreich oder Italien immer anders. Durch die Vereinigung ist jetzt so etwas Komisches wie die PDS dazugekommen. Und dagegen führt die SPD einen kulturellen Abwehrkampf. Nach dem Motto: Bei uns gab’s so was bisher nicht, warum sollen wir uns jetzt damit auseinander setzen?
Müntefering: Das ist doch lange her. Außerdem gibt es wichtigere Fragen.
Gysi: Nein, Sie können bis heute nicht vom Kulturkampf lassen. Dabei symbolisiert eine linke Partei wie die PDS doch nur einen Zustand westeuropäischer Normalität.
Ist bei so viel Kampf ein Frieden zwischen Ihnen unmöglich?
Gysi: Nein. Es würde doch Sinn machen, die PDS auch als Bereicherung zu empfinden. Ich will keine Bundesrepublik ohne eine Partei wie die CDU. Das mag komisch klingen, weil die Partei unser politischer Gegner ist. Aber ich will weiterhin gezwungen sein, mich mit konservativen Positionen auseinander zu setzen. Es wäre schon ein Fortschritt, wenn Herr Müntefering sagen würde: Es ist okay, dass es in diesem Land auch Sozialisten gibt.
Müntefering: Darauf können Sie aber lange warten.
Herzlicher geht’s nicht?
Müntefering: Die Bundesrepublik braucht keine Partei wie die PDS.
Zitate:
MÜNTEFERING ÜBER GYSI
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GYSI ÜBER LINKE PARTEIEN
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