: Im Osten nichts Neues
Das Brauereigelände KulturBrauerei ist eine Stadt in der Stadt. Erst Industrieburg, dann Möbellager, dann Zentrum für alternative Off-Kultur, ist es seit dem Wochenende ein Center für Kommerz
von FRANZISKA REICH
Heinrich Prell mochte nicht mehr Apotheker sein. Also zog er in die Neue Jakobstraße, stellte einige Fässer in den Keller und Tische in die Stube, kaufte Hopfen, Malz und Gerste, braute und wartete fortan auf Gäste. Die kamen in Scharen. Dann starb Herr Prell, und Jobst Schultheiss braute weiter. Elf Jahre später verkaufte Schultheiss die Brauerei samt seinem Namen an die Roesickes. Roesicke heißt auf Rheinisch Röschen, und wie eine Rose blühte das Biergeschäft. Das war 1867. Die Roesickes waren echte Macher.
„Wir sind die Macher“, sagt Thorsten Hoffmann im Jahr 2000. Die Macher vom Soda Club. Er sitzt an einem Tisch, der in Brasilien hergestellt wurde. Wie alle Tische im Restaurant, in der Bar und im Club. Weil Brasilien cool ist und das Holz dunkler und weil die Brasilianer das Logo für wenig Geld in die Milchglasscheiben gefräst haben. „Es gibt hier nicht viele Macher“, sagt er und sieht nachdenklich nach rechts oben. Noch höher, als die riesigen Fenster reichen. Hinauf bis zum roten Backstein.
Backstein passt zu Stahl, Holz und Glas. Zu Grün und Schwarz auch. Stars fühlen sich wohl hier, glaubt Thorsten. Sie kommen mit Limousinen, fahren vor und müssen lachen, weil das Interconti so anders ist. Aber sie mögen das Improvisierte, die Dekadenz inmitten der Bauzäune, lieben den Prenzlauer Berg, solange der rote Teppich liegt. Eine große Zigarettenwolke quillt aus dem Machermund, und Thorsten fährt sich mit der flachen Hand über das Haar und lehnt sich langsam zurück: „Die, die nach dem Bierpreisbarometer gehen, brauchen wir nicht.“
Die brauchten die Roesickes, denn für sie brauten sie Bier, gut und günstig, brauten 200.000 Hektoliter pro Jahr, erweiterten und entwarfen und errichteten eine Halle nach der nächsten und bebauten so 21.000 Quadratmeter. Alles in Backstein, alles im Stil einer prachtvollen Fabrik großbürgerlichen Wohlstands – eine Tempelanlage industrieller Braukunst.
Heute erinnern nur die Namen der Hallen, die in schwarzen Buchstaben an den Gebäuden angebracht wurden, an die alte Zeit: Pichhalle, Beschlagbrücke oder die Halle fürs Flaschenbier. Heute sitzt man bei einem Cappuccino im Soda Club und schließt die Augen und versucht sich vorzustellen, wie Fässer über Laderampen donnern, wie Männer stöhnend schwitzen, riesige Kessel dampfen und aus dem Schlot grauer Rauch stößt. Vergebens. Es hat sich viel verändert. Zunächst schleichend, inzwischen rasant.
Bald schon schunkelt edel der Barzie dort, wo einst laut der Prenzlauer-Berger feierte. Im legendären Franz Club. Da kamen noch Rocker auf das Gelände. Ostrocker in Lederjacken, die auch die Alte Kantine stürmten, weil dort nach dem DDR-Gesetz 60:40 aufgelegt wurde. 60 Prozent Ostmusik, 40 Prozent West. Ost Rock tests the West. Weil es dort noch die Club Cola zu trinken gab und noch der traditionelle Groschen für die Kultur gezahlt wurde. Damals 3 Mark und ein Groschen. So drückten des Nachts alte Rocker, junge Alternative, Konservative und Ostalgiker ihre Hintern auf Dixy-Kloschüsseln und standen Schlange.
Die Veranstaltung heißt noch immer Ost Rock tests the West, aber die Toiletten sind gekachelt, der Eintritt kostet 5 Mark und einen Groschen und das Publikum regt wenig mehr an als die Fantasie. Wie der Abend wohl begonnen hat? Vielleicht: „Mäuschen, wolln wa nich mal heute abend so rischtisch . . .?“, fragt der mittelalte Mann die mittelalte Frau, und weil sie nickt, schnappt er sich die Lederjacke, die Autoschlüssel und die Zigaretten und zieht mit Mäuschen los. Einmal wieder Club Cola trinken. „I had the time of my life“, grölen die Männer, die ihren Pullover im Gürtel verankert haben.
Nach der Wende bröckelten die Fassaden noch ungestört, Pfützen bildeten Seen und Seen Kloaken. Der Bierbetrieb war schon lange nach Weißensee gezogen, das Gelände moderte und rottete und faulte. Wie der ganze Prenzlauer Berg. Statt der Bierflaschen lagerte Möbel-Max seine Möbel in den riesigen Hallen. Sonntags standen kleine Flohmarktstände im Schlamm. Der Schlamm, in dem auch die Verkaufspläne der Treuhand versanken. Keiner wollte das Areal kaufen – nicht einmal für eine Mark.
Dieser Horror ist vergessen. Treuhänderin Petra Hildebrandt nennt sich heute „Center Managerin“ und liebt hysterisch. Liebt Berlin und das ganze Projekt und die viele Kultur. „Einmalig“, nennt sie das. Hockt in einem kleinen Büro gegenüber der rauchenden Sekretärin, inmitten von Kisten und Papier und Schränken und verwaltet. In eierschalfarbenem Mantel schwebt sie über die Baustelle, grüßt hierhin, lacht dorthin und beweist: Stöckelschuhe sind auf Baustellen lediglich eine Frage von Umwegen.
„Die Treuhand hat doch einfach nur unser Konzept übernommen“, sagt Joachim Sommermeier. Er ist Geschäftsführer der KULTURBRAUEREI gGmbH. Das kleine g steht für gemeinnützig. Sommermeier ist auch ein Macher, nur anders als Thorsten oder Petra. Weniger kommerziell, eher alternativ. Er war schon lange vor der Treuhand da.
Schon seit 1991. „Der Zustand des Geländes war unerträglich“, sagt Sommermeier. Aber sie konnten Kultur machen. Alternativkultur: Wochen über Roma und Sinti, junge Künstlerinnen, die von Hirnwichserei singen, Lesungen – das ist der letzte Rest Off-Kultur, der bleibt. Bleiben kann, weil die KULTURBRAUEREI gGmbH nur fünf Mark pro Quadratmeter an die KulturBrauerei mit großem K und großem B zahlen muss. Großes K und großes B, das ist die Treuhand.
„Wenn die Leute ins Kino gehen, kommen sie auch bei uns vorbei. Das ist günstig“, glaubt Sommermeier. Aber das sind andere Leute als früher. Andere Leute, die aus dem Multiplex-Kino stolpern, in dem Filme laufen wie in jedem anderen auch. Andere Leute, die aus dem Soda Club wanken und doch nicht entdeckt wurden. Andere Leute, die aus dem Leopold’s torkeln werden, wenn das im April eröffnet. Mit weißblauem Himmel über der Aktionsfläche, mit Bierbrunnen und deftigen Sprüchen an der Wand: „Ein kühler frischer Gerstensaft gibt Herzenskraft und Schaffenskraft. Prosit.“
Gegenüber wartet der bayrische Festsaal auf erste geschlossene Gesellschaften. Rustikale Wandmalerei, Eiche, dunkel gebeizt, und verkleidete Heizkörper laden zur bierseligen Bavariamanie. „Alles Wertarbeit“, sagt der Geschäftsführer Manfred Maier und streift sich die Schuhe an der Fußmatte ab, „hier wird es bierhopfig zugehen.“ Vor dem inneren Auge ziehen Männer in Krachlederner vorbei, hier ein Maß, dort ein Madel im Dirndl. Und überall Macher.
Joachim Sommermeier sitzt im Restaurant des Soda Clubs bei einer Tasse Kaffee und sieht über den Hof. Hinüber zur Töpferwerkstatt und dem Theater, dem Kesselhaus und den beiden abgemagerten Skulpturen vor dem Eingang. Wenn er die Tasse zum Mund hebt, knarzt das dunkle Leder seiner Jacke. „Es ist schon dekadent geworden auf dem Gelände. Aber wir machen dieselbe Alternativkultur wie früher.“
Im Theater „Sonnenuhr“ proben ein Blinder und ein Sehender das Stück „Endspiel“ von Samuel Beckett. Der Blinde spielt sehend mit einer durchsichtigen Skibrille. Der Sehende spielt blind mit einer schwarzen Skibrille. „Augen auf“, sagt der Regisseur zu dem Blinden. „Was du damals mit dem Kind gemacht hast! Erst hast du es umarmt, dann hast du es gekillt“, sagt der Blinde und schneidet Fratzen vor dem Spiegel, beschaut sich sein Gebiss und drückt einen Pickel aus. Danach wischt er den imaginären Eiter vom Spiegel. Heute Abend ist Premiere. Dieses Theater gehört zum kleinen g im Namen der KULTURBRAUEREI.
„Wenn die Treuhand in Kultur macht, dann kracht’s“, sagt Joachim Sommermeier. Aber Petra Hildebrandt freut sich über all die Kultur und findet alles so schön und liebt so hysterisch das ganze Projekt. „Mit den Anwohnern klappt es ganz prima“, sagt sie. Als sie Angst hatten um ihren Schlaf wegen der vielen Autos, beschloss die Treuhand, ein unterirdisches Parkhaus zu bauen mit 250 Stellplätzen.
„Es ist doch alles so schön hier“, lächelt sie und zieht die Mundwinkel von links nach rechts. So schön, dass Petra Hildebrandt träumen kann. Vom längsten Tisch Berlins, quer über das Brauereigelände. Von einem orientalischen Basar in der Pichhalle. Wegen der Rundbögen und der Säulen böte sich doch ein Markt wie im Orient an, findet die Center Managerin. So schön.
So Disneyland-unwirklich des Nachts. Dann strahlen blau und gelb die Schilder des Kinos, erleuchten den Hof mit den alten Gemäuern, die dunkel von einer Zeit erzählen, in der nur nachts Stille einkehrte. Eine Menschenschlange wartet auf Einlass vor der Alten Kantine, aus der die Bässe entfliehen. Kopfsteinpflaster schimmert nassschwarz im Schein der Laternen, wo es bereits verlegt ist. Der Rest versinkt noch in Baudreck. Rot und grün leuchtet das Schild des Supermarkts.
Das Brauereigelände ist ein Prestigeobjekt im Herzen Berlins. „Miets, miets, miets“, wirbt eine Riesenkatze an der Backsteinmauer zur Schönhauser Allee. Die 41.000 Quadratmeter Mietfläche sind zu etwa 70 Prozent vermietet. „So begehrt“, schwärmt Petra Hildebrandt.
Im Soda Club, in dem am Nachmittag noch friedlich die Lilien verblühten und aus dem die Bohrmaschine dröhnte, steht jetzt ein frischer Strauß, und Beats wummern anstelle der Bohrmaschine. Es ist spät. Macher-Pärchen schwofen: kleine Männer in Slippern, die Prosecco trinken, große Frauen, die zu kurze Röcke zu tiefen Dekolletees tragen. Die Musik lässt Worte auf den Lippen ersterben, mordet Gedanken. Man sitzt faul auf Hockern, glotzt dem Friseur auf die Finger, der die Partygäste stylt. Und nichts erinnert an früher. Nicht an die Roesickes, nicht an die Alternativkultur und schon gar nicht an Möbel-Max. Man nimmt einen Schluck Sekt und weiß: Man ist im Macher-Westen angekommen.
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