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: Historische Romane

Objektivität als Täuschung

Historische Romane sind ein schier unverwüstliches Genre, für das es allerdings keine verbindlichen Rezepte gibt. Elisabeth Plessen weist in der Dokumentation „Romantheorie – Texte vom Barock bis zur Gegenwart“ darauf hin, dass es so viele Arten historischer Romane gibt, wie es Autoren gibt, die sie verfassen. „Aus seinem Verhältnis zur Sprache und dem Umgang mit Tradiertem und Dokumentiertem“ stelle jeder Autor „seine Version oder seinen Entwurf her. Objektivität, die von den Historikern viel gerühmte, auch viel beschworene, apologetisch beschworene Objektivität entpuppt sich da als das, was sie auch ist: auch Täuschung, auch Trick oder Götterglaube.“

Mit dem durchschlagenden Erfolg von Umberto Ecos Klosterkrimi „Der Name der Rose“ hat sich der historische Roman zunehmend Elemente der Detektivgeschichte einverleibt, und zwar auf sehr unterschiedlichem Niveau. Es gibt matte Fließbandware wie die historischen Roger-Chapman-Krimis der englischen Autorin Kate Sedley, in denen das Mittelalter lediglich als Pappkulisse dient, vor der Investigationsgeschichten à la Agatha Christie abgespult werden: „Der verhängnisvolle Winter“ heißt das neueste Produkt dieser historisierend verbrämten Trivialitäten. Es gibt aber auch historische Krimis, deren Plots auf geschichtlichen Fakten basieren und diese umdeuten oder jedenfalls neu arrangieren, sodass bestimmte Ereignisse in neuem Licht erscheinen.

Dazu gehört Patricia Finneys spannender, dramaturgisch clever gebauter Roman „Die Spur des Einhorns“, in dem es um die Machtkämpfe und Intrigen zwischen Elizabeth I. und Maria Stuart am englischen Königshof geht. Sie habe, schreibt die Autorin im Vorwort, „die geschichtlichen Ereignisse wie ein Skelett oder Baugerüst benutzt“, sei jedoch „ohne Scheu in die Phantasie“ gewechselt, um „mutmaßliche Theorien in Tatsachen und gewagte Vermutungen in feste Annahmen“ zu verwandeln.

Diese Selbstaussage ist durchaus exemplarisch, weil durch ein solches Verfahren das Verhältnis von Dichtung und historischer Wahrheit auf den Kopf gestellt wird: Im Roman wird die Erfindung zur Tatsache und behauptet ihr Recht gegenüber dem, was tatsächlich geschah oder zumindest als objektive Tatsache behauptet wird. Objektivität wird mithin zur Täuschung.

Gute historische Romane ästhetisieren also das Vergangene nicht, sondern sie konstruieren Geschichte als Möglichkeit, indem sie das, was zu vermuten wäre, als reales Ereignis erzählen. So verfährt auch Hanns-Josef Ortheil, der sich lange als literarischer Chronist an der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland abgearbeitet und sich dann mit „Faustinas Küsse“ den historischen Roman erschlossen hat.

Es geht um Goethes legenden- und gerüchteumrankten Aufenthalt in Rom, von dem Ortheil aus der Perspektive eines päpstlichen Spitzels erzählt. Doch ist die heimliche Heldin des Romans nicht etwa Goethes römische Geliebte, sondern die Stadt Rom selbst, ihre Straßen, Plätze und verschwiegenen Winkel.

Auf dem römischen Campo dei Fiori wurde im Jahre 1600 der Philosoph und Schriftsteller Giordano Bruno als Ketzer verbrannt. Ein in Richtung Vatikan blickendes Denkmal erinnert an ihn, und der französische Romancier Serge Filippini hat Brunos abenteuerliches Leben unter dem Titel „Der Ketzer vom Campo dei Fiori“ zu einem Roman verarbeitet, dessen Fiktion davon ausgeht, dass Bruno während der Zeit seines Inquisitionsprozesses Tagebuch führte. Herausgekommen ist eine äußerst lesbare Mischung aus Spekulation, fiktiver Autobiografie und Tatsachenbericht, aus Ideenroman und Skandalgeschichte.

KLAUS MODICK

Hanns-Josef Ortheil: „Faustinas Küsse“. btb. 351 S., 20 DM

Kate Sedley: „Der verhängnisvolle Winter“. rororo. 280 S., 14,90 DM

Patricia Finney: Die Spur des Einhorns. btb. 599 S., 20 DM Serge Filippini: „Der Ketzer vom Campo dei Fiori“. Aufbau TB. 470 S., 19,90 DM

Hartmut Steinecke/Fritz Wahrenburg (Hg.): „Romantheorie“. Reclam UB. 577 S., 24 DM