: Tourismusboom und Kinderarbeit
In ihrer Studie „Ferienglück aus Kinderhänden“ untersucht die Schweizer Tourismusforscherin Christine Plüss die Situation minderjähriger Erwerbstätiger: Die Bedingungen erinnern oft an Sklavenarbeit, dennoch sind die Kinder auf die Jobs angewiesen. Reisende reagieren verunsichert, hilfsbereit oder aggressiv
von CHRISTEL BURGHOFF
Wenn die zwölfjährige Gastwirtstochter aus einem österreichischen Fremdenverkehrsort ihren Ferientag schildert, dann klingt das nach viel Arbeit: „Aufstehen, frühstücken, der Mama helfen – abtrocknen, abwaschen, staubsaugen, Handtücher für die Gäste rauftragen – Mittagessen kochen helfen. Nachmittags abwaschen, dann rodeln oder so. Am Abend helf ich dann der Mama wieder, zum Beispiel abtrocknen, Abendessen herrichten, und nachher geh ich schlafen.“ Ein Beispiel von vielen, das Christine Plüss in ihrem Buch „Ferienglück aus Kinderhänden“ über Kinderarbeit im Tourismus heranzieht. Und eines der mehr oder weniger üblichen, weil das junge Mädchen bloß „der Mama hilft“.
Andernorts geht es krasser zu. Beispielsweise für den zwölfjährigen nepalesischen Träger, der 25 Kilo Gepäck zweier Schwedinnen durch den Himalaja schleppt. Er wurde von einer einheimischen Agentur angeheuert, die lieber Kinder als Erwachsene anstellt, weil Kinder weniger kosten. Im Unterschied zur behüteten Gastwirtstochter verdient er aber bereits eigenes Geld; andererseits sind seine sozialen Kosten höher: Er muss, weil seine Familie das Geld braucht, auf seine Schulausbildung verzichten.
Die beiden TourismusarbeiterInnen sind kaum zu vergleichen. Man sollte es dennoch tun, denn beide gelten bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr als Kinder – nach der UNO-Konvention von 1989. Und beide haben dieselben spezifischen Rechte auf „Bildung, Gesundheit, soziale Sicherheit und Mitsprache, damit sie sich zu Erwachsenen entfalten können“.
„Heute“, so betont Christine Plüss, „ist praktisch in allen Ländern gesetzlich festgelegt, wie lange ein Kind etwa die Schule besuchen muss, wie alt es sein muss, um heiraten zu können, vor Gericht gestellt, zur Armee eingezogen oder zur Arbeit zugelassen zu werden.“ Das gilt für Nepal wie für Österreich. Die österreichischen Gesetze sehen vor, dass Kinder erst ab zwölf Jahren im elterlichen Betrieb mitarbeiten dürfen, und das nur für zwei Stunden täglich.
Aber was heißt das schon, wenn sich in der Gastwirtsfamilie alles und jedes um den Gast dreht? Wenn sich überlastete Eltern nicht anders ihren Kindern widmen, als sie in den Betrieb mit einzubinden? Arbeit ist ein dehnbarer Begriff. Selbstverständlich besucht die Gastwirtstochter die Schule, materiell gesehen fehlt es ihr an nichts – außer an freier Zeit und an eigenen Entfaltungsmöglichkeiten.
Kinderarbeit ist weitgehend eine Grauzone zwischen formellem und informellem Arbeitssektor, zwischen Legalität und Illegalität. Vor allem für Mädchen ist die Situation wegen der üblichen „Mitarbeit“ im privaten Bereich undurchsichtig. Die Studie „In the Twilight Zone“ der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), auf die sich Christine Plüss wesentlich stützt, konstatiert den überragenden Anteil der touristischen Arbeitsplätze in der Beherbergung und Verpflegung: rund achtzig Prozent.
In dieser „erweiterten Form von Hausarbeit“ (Plüss) setzt sich die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung fort, die Mädchen zu Hausfrauen formt. Doch werden nicht allein Mädchen herangezogen: Vor allem in den „Hotels“ genannten Gaststätten Indiens, in asiatischen „Suppenküchen“, in den Guesthouses in aller Welt und in Strandkneipen, in Zulieferbetrieben wie Wäschereien und Gärtnereien, selbst in großen Hotels malochen Kinder beiderlei Geschlechts, oftmals unter katastrophalen Bedingungen, die sich nur mit Sklavenhalterei vergleichen lassen.
Auf zehn bis fünfzehn Prozent schätzt die ILO den Anteil von Kindern und Jugendlichen unter achtzehn Jahren am touristischen Arbeitsmarkt. Über die absoluten Zahlen lässt sich nichts Genaues sagen. Die Schätzungen gehen auseinander: Die Welttourismusorganisation (WTO) geht von weltweit 130 Millionen Beschäftigten im Tourismus aus; der „World Travel & Tourism Council“ (WTTC) schätzt 260 Millionen, jeder zehnte Arbeitsplatz sei, weltweit gesehen, ein touristischer. Die ILO vermutet, dass sich mindestens dreizehn bis neunzehn Millionen Kinder und Jugendliche ihren Lebensunterhalt im Tourismus verdienen. Einig sei man sich, schreibt Plüss, dass die Zahlen rasant ansteigen. Der touristische Arbeitsmarkt boomt – somit auch für Kinder.
Wenn auch die meisten Kinder mehr oder weniger versteckt arbeiten – jeder Tourist kommt mit ihnen irgendwann in Berührung, schon deshalb, weil sie sich aufdrängen: süße kleine Mädchen von vier Jahren, die Postkarten verkaufen und das Herz von UrlauberInnen erweichen, selbst ernannte Guides mit weltmännischem Habitus, die Touristen durch die pittoresken Altstädte dieser Welt lotsen, kleine Bettelkönige, charmante Selbstdarsteller, frühreife Verkaufsgenies, sympathische Propagandisten in eigener Sache – in allen Touristenhochburgen sind sie unterwegs, um eine schnelle Mark zu machen. Schon die Kleinsten leisten, was sie leisten können; je jünger sie sind, umso stolzer sind sie aber auch auf ihre Erfolge. Arbeit im Tourismus ist, so macht Plüss vor allem an Kindern aus der Dritten Welt deutlich, auch ein Feld für kindlichen Stolz. Man dürfe sie nicht „pauschal als passive Opfer“ darstellen, schreibt sie, denn sie entwickelten nicht zu unterschätzende „individuelle Strategien und Kreativität“.
Zwar zwingt gerade hier die Armut zum Gelderwerb – aus Sicht dieser Kinder gibt es allerdings auch die individuelle Leistung, etwa im Umgang mit den Fremden, aus der sie ein gutes Selbstwertgefühl ziehen und Prestige im eigenen sozialen Umfeld. Nichts fürchten diese Kinder mehr, als dass die Touristen eines Tages ausbleiben könnten. Tourismus braucht solche Menschen: junge, formbare, anspruchslose und flexible Arbeitskräfte, HandlangerInnen für alle Gelegenheiten – und sie brauchen den Tourismus.
Den Kindern gilt Tourismus als verhältnismäßig unproblematische Geldquelle, mit der es sich leichter leben lässt als etwa mit der Knochenarbeit in Bergwerken oder in Teppichknüpfereien. Vielen Kindern (Plüss zitiert eine Studie über „Beachboys“ in Gambia) gilt die Beziehung zu Fremden über den materiellen Gewinn hinaus sogar als die „eigentliche Eintrittskarte in die westliche Welt“. Zumindest hoffen sie dies.
Für Touristen ist Kinderarbeit oft ein Konfliktfeld, das Unsicherheit erzeugt, auf dem sie zwischen Hilfsbereitschaft und Aggressionen schwanken. Sollen sie nun etwas kaufen, sollen sie Geld geben oder nicht oder die Kinder abwimmeln? Wird man angelogen oder abgezockt, was macht das Kind mit dem Geld, wartet an der nächsten Ecke vielleicht der Schlepper?
„Spätestens beim dritten Kauf möchte ich mir die Geschichte vom abgehauenen Vater, der kranken Mutter oder den sieben Geschwistern in der ärmlichsten Hütte am Stadtrand nicht mehr anhören“, zitiert Plüss einen durchaus geduldigen Mitarbeiter von „terre des hommes“ in Brasilien.
Kinderarbeit weckt jedoch längst nicht den Grad an Empörung, den eine der Extremformen, die Kinderprostitution, erzeugt. Hier machten und machen sich internationale Hilfswerke für Kinder stark und erreichten immerhin ein gewisses Maß internationaler Ächtung und Verfolgung der kriminellen Freier. In der Twilight Zone, im Zwielicht der alltäglichen Kinderarbeit ist es dagegen ziemlich still.
Christine Plüss hat die Kinderarbeit im Tourismus in ihrer Widersprüchlichkeit und Mehrdeutigkeit thematisiert. Sie hat eine Bestandsaufnahme gemacht, vorhandenes Material gesichtet und Studien ausgewertet, ohne Pathos und Schuldzuweisungen, aber mit Parteinahme für die Minderjährigen. Knapp und eingängig skizziert sie die Mechanismen und Folgen internationaler Wirtschaftsprozesse, sie beleuchtet den Armutsdruck und viele andere Hintergründe, die Kinder in die touristische Arbeitsmühle treiben. Reportagen aus dem Alltag der Kinder und ein Anhang zur Materialbasis vervollständigen das Dossier.
Eine aufklärerische Arbeit – wie bereits andere Dossiers (etwa zur Frauenarbeit im Tourismus), die sie im Rahmen ihrer Tätigkeit beim Schweizer Arbeitskreis für „Tourismus und Entwicklung“ herausgegeben hat. Darüber hinaus gehend stellt Plüss „Wege aus der Ausbeutung“ vor: Zum einen gibt sie einen Überblick über die bisherigen Aktivitäten – vor allem der Nichtregierungsorganisationen (NGO) –, zum anderen hat sie umfangreiche Empfehlungen erarbeitet, wie sich die internationalen Schutzbestimmungen für Kinder in die Realität umsetzen lassen. Verunsicherten Touristen rät sie unter anderem zu einem „bewussten Kaufentscheid“ für verträgliche Reiseformen und zur Unterstützung qualifizierter Kinderhilfsprojekte.
Christine Plüss: Ferienglück aus Kinderhänden – Kinderarbeit im Tourismus. Rotpunktverlag, Zürich 1999, dreißig MarkDie gleichnamige Ausstellung wird auf der ITB (Halle 7.2 b, Youth Travel Center) gezeigt. Auskünfte und Materialien über verantwortliches Reisen und Projekte im Bereich der Kinderarbeit können am Info- und Bücherstand eingeholt werden.
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