Welterprobte Althippie

Ludmilla Tüting machte sich in der Reiseszene einen Namen als Deutschlands erste hauptamtliche Globetrotterin, Journalistin und Nepalexpertin. Heute bezeichnet sie sich selbst als verkappte Sozialarbeiterin und kritisiert vehement die alternative Reiseszene. Sie lebt abwechselnd in Katmandu und Berlin-Kreuzberg

von EDITH KRESTAund GÜNTER ERMLICH

Jg. Mann, 26 J., startet im Herbst mit VW-Bus nach Indien. Einem praktischen und selbständ. Mädel ist gegen geringe Unkostenbeteiligung Mitfahrt geboten. Zuschr. unter Z. 14 860 an StZ. (Juni/Juli 68 in der Stuttgarter Zeitung)

Mit dieser Anzeige begann das zweite Leben der Ludmilla Tüting. Sie war 21, arbeitete gerade als Zeitungsdrückerin und hatte schon eine vierjährige Verlobung hinter sich. Gescheitert war diese bürgerliche Liaison an der erwachenden Libertinage der Gesellschaft und der ganz persönlichen von Ludmilla. Vierzig Frauen antworteten auf die Anzeige. Auch Ludmilla: „Alle Frauen hatten Geld und keine Zeit. Ich hatte kein Geld, aber Zeit.“ Sie kam schließlich mit.

Ein Schwabe aus dem Remstal, Werkzeugbauer von Beruf, im Übrigen „ein Simpel“, fuhr mit Ludmilla in vier Jahren um die Welt. Mit einem 35 PS starken VW-Transporter nahmen sie zunächst die legendäre Hippieroute über Pakistan und Iran nach Indien. Mit dem Schiff setzten sie nach Malaysia über, danach kamen Laos, Indonesien, Singapur. Dann mal eben „ruck, zuck“ für anderthalb Jahre nach Australien. Dort Arbeit am Fließband, Ziegel gebrannt, Hühner gerupft, Früchte gepflückt.

Von dort schipperten sie mit Stop-over in Tahiti durch den Pananamakanal, fuhren hoch nach Kanada, runter nach Kolumbien. Chile unter Allende war zu teuer; es kostete zehn Dollar Eintritt pro Tag und Person. Von Brasilien ging es mit einem Frachter nach Angola, vom westafrikanischen Niger schließlich wollten sie im Konvoi durch die Wüste nach Algerien. Das PS-schwache Gefährt machte im Sand schlapp. „In ihrem Hass auf Deutsche ließen uns holländische Juden in der Wüste stehen. Wir wären fast verreckt. Wir kamen mit Hilfe Einheimischer raus und haben dann die alte Karre an den Polizeichef von Niamey, der Hauptstadt von Niger, verkauft.“ Für sechshundert Mark. Siebenhundert Mark hatte sie einst in Deutschland gekostet.

Vier Jahre on the road, inklusive Schiffspassagen für 18.000 Mark. Ihr VW-Transporter, der rundherum „Stuttgarter Hofbräu“-Aufkleber durch die Welt kutschierte , brachte immerhin vom Biersponsor vierhundert Mark im Jahr. Und erfreute ausgewanderte Deutsche in Australien und Lateinamerika. „Die standen heulend vor dem Auto und wollten von uns was hören. Dafür bekamen wir immer die wunderbarsten Abendessen“, erinnert sich Ludmilla. „Sonst haben wir nur von Reis und Zwiebeln, Zwiebeln und Reis gelebt.“ Eine Schule fürs Leben, betont Ludmilla mit erhobenem Zeigefinger. Durch ihren „Typen“ habe sie gelernt, wie man aus nichts noch etwas machen kann. Mit ihm – „tolle Kameradschaft, blindes Vertrauen“ – hatte sie den Initiationsritus zur Globetrotterin durchlebt.

Nach der Reise machte sie „eine riesensteile Karriere“ bei der Westfalenpost. Schon als Volontärin bekam sie nach einem Jahr ihre eigene Reiseredaktion. In drei Wochen fetzte sie aus Tagebuchaufzeichnungen ihren Reiseführer „Von Alaska bis Feuerland“ auf Matritzen. Und verkaufte diesen im Selbstverlag in fünf Jahren siebzigtausend Mal. Der erste alternative Reiseführer wurde ein Bestseller. Fünfzig Pfennig Herstellungskosten, 11,70 Mark Verkaufspreis. „Ich war damals stinkereich.“

Sie kehrte der Westfalenpost den Rücken. Und scharte stattdessen die „besten Globetrotter“ um sich. „Während der Fußball-WM 1974 in Deutschland habe ich meine Eltern für ein paar Tage in die Wüste geschickt und unser Haus in Hagen mit Riesengarten für die erste große Globetrotterfete geöffnet. Siebzig Leute aus ganz Europa kamen, mit einem Lama, mit einem Leguan.“

1974 gründete Ludmilla in Berlin die „Deutsche Zentrale für Globetrotter e.V.“ und machte in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit Karriere als „Leitmamsell der deutschen Globetrotter“ (Die Zeit, März 83). Zehn Jahre lang blieb sie erste Vorsitzende des Vereins mit „unumschränkter Vorherrschaft“ (Touristikreport, März 85). Ludmilla heute: „Wir haben uns gegenseitig gestützt, Reiseinfos ausgetauscht und Reisepartner vermittelt. Ein Solihaufen mit wilden Sauforgien. Wir waren ja als Gammler und Faulenzer verschrien. Man sah doch keinen Wert darin, dass wir die Welt kennen gelernt hatten.“

In ihrer „Sprechstunde für Globetrotter“, mit der sie durch Städte tingelte und Tipps & Tricks für die ausgefallensten Routen verriet, hingen welthungrige Rucksackreisende in spe an ihren Lippen. Beim Starnberger Studienkreis für Tourismus referierte sie über die Lebenseinstellung der Globetrotter: „Wir sind keine Faulenzer. Wir haben ein anderes Lebensgefühl und versuchen, uns zu verwirklichen. Wir wollen weg von dem Muff und der ganzen Spießigkeit.“

Auf nach Nepal! Schon nach ihrem Volontariat war Ludmilla im Himalaya-Königreich einige Monate hängen geblieben. Seitdem hat die Exglobetrotterin ihr zweites Zuhause gefunden. Zunehmend distanzierte sich Ludmilla nun von der alternativen Reiseszene.

1968, als sie zu ihrer großen Welttournee aufbrach, war sie ein unpolitischer Teenager. „Ich werde immer als Achtundsechzigerin dargestellt. Völlig falsch.“ Ihre Eltern – Mutter Hausfrau, Vater Staatsanwalt – beschlossen, dass ihre Tochter nach dem Mittelschulabschluss Diätassistentin werden sollte. Das Wort Politik gab es für sie nicht. Erst in Nepal, Mitte der Siebzigerjahre, bekam sie eine Ahnung davon. „Dort hatten wir weder Wasser noch Strom. Damals begann ich, bewusster zu werden.“

In den Siebzigerjahren wurden ferne Ziele pauschal buchbar und durch Billigflüge erschwinglich. Ludmilla Tüting wurde zur Protagonistin des alternativen Reisens im Gegensatz zum Massentourismus. Ein Paradiesvogel auf Konferenzen, in Radio und Fernsehen. Die Aufmischerin, die Agent provocateuse mit Schnodderschnauze. Streitbar und streitlustig, die Antennen ständig auf Empfang. „Ich kann mich nur über Glaubwürdigkeit verkaufen“, sagt sie heute. So couragiert, wie sie den Moderatoren beim Thema „Begegnung mit anderen Kulturen“ damals wie heute lautstark ins Wort fällt und es besser weiß, so mutig wandert sie in Badelatschen unter dem „Dach der Welt“.

Hippiesk und welterfahren, aber unhippiemäßig moralisch, prangert sie landauf, landab touristisches Fehlverhalten an. Lautstark, durchsetzungsfähig. Sie nervt Redaktionen mit ihrem Anliegen. Vital und gnadenlos gegenüber selbst erklärten Feinden, teilt sie die Welt in Schwarz und Weiß ein. Die Schuld sieht sie immer bei den anderen. Früh hat das Energiebündel den eigenen Stil gefunden: immer Blue Jeans und erdverbundenes Schuhwerk, langes, inzwischen graues Haar, runde Nickelbrille. Der schmückende Höhepunkt: gelegentlich eine rote Nelke im Haar. Ein Brauch nepalesischer Frauen.

Seit 25 Jahren pendelt sie zwischen Berlin-Kreuzberg und Katmandu. Alles, was sie in ihrem Leben gelernt habe, erzählt sie, habe sie in Asien gelernt. Bei ihren Langzeitaufenthalten in Katmandu lebt Tüti, so ihr nepalischer Kosename, im Hotel Vajra, einem Hotel mit eigenem Theater, das von einer Exschauspielerin des Berliner Gripstheaters geleitet wird. Dort hält Tüti Hof, trifft sich mit Menschenrechts- und Umweltaktivisten, diskutiert mit Vertretern von Nichtregierungsorganisationen (NGO), berät Tourismusminister und weist Besucher aus dem Westen in die Landesbräuche ein. Damit auch Zimmermädchen und Tellerwäscher vom Tourismus profitieren, organisiert sie Schulpatenschaften für die Kinder der Hotelangestellten. „Ich appelliere an das schlechte Gewissen der Touristen, die sich hier eine schöne Zeit machen. Mit 180 Mark im Jahr übernehmen sie das Schulgeld eines Kindes in einer Privatschule.“ Spendenquittung garantiert.

Ludmilla bezeichnet sich selbst als „verkappte Sozialarbeiterin“, immer auf der Seite der Minderheiten. In Asien findet sie dafür ein breites Betätigungsfeld: Sie betrieb Soliarbeit für die Chipkoumweltschutzbewegung der Bergbäuerinnen im indischen Himalaya, ein Projekt zum Schutz des Bergwaldes („Bäume umarmen“) gegen die drohende Entwaldung. Sie engagierte sich für die Aufforstung des Everestgebiets. Mit Petra Kelly kämpfte sie für die Rechte der Tibeter. Ludmilla Tüting, die rastlose Aktivistin, macht die Probleme ihrer auserwählten Region – Ökologie, Menschenrechte, Tourismus, Entwicklung – mit Büchern, Vorträgen und Artikeln in der deutschsprachigen Öffentlichkeit publik. „Mein Herz ist Nepali, der Rest ist Deutsch“, gesteht sie. Um der „Säuglingsdemokratie“ in Nepal auf die Sprünge zu helfen, hat sie seit 1990 schon viermal bei Wahlen als Beobachterin teilgenommen.

„Ich lebe vollkommen ganzheitlich. Für mich ist Leben und Freizeit deckungsgleich.“ Familie und Kinder sind für Ludmilla kein Thema. „Ich bin eine Einzelgängerin, aber immer eingebunden in etwas.“ Männer? „Massig!“ Sie findet ihr Leben ungeheuer reich und aufregend. Anstrengend natürlich auch. „Ich brauche nicht nach Grenzen suchen oder Bungeespringen zu machen. Ich brauche keine Juwelen.“

Dass sie inzwischen eine Zentralheizung in ihrer Kreuzberger Altbauwohnung hat, genügt ihr. Dort hat sie nach einem Wutanfall den „Antirassistischen Arbeitskreis“ (ARA) in einer Nacht gegründet. „Du brauchst dafür nur einen Briefkopf, oder?! Ich war immer eine Macherin. Wenn ich etwas sehe, was ungerecht ist, will ich sofort was unternehmen.“ So outete Ludmilla manchen Reisebuchautor als sexistischen und rassistischen „Dummfick“ – so nachhaltig, dass in der nächsten Auflage die inkriminierten Stellen gestrichen waren.

Für sozial- und umweltverträglichen Tourismus hat sie jahrelang als Koordinatorin der Arbeitsgemeinschaft „Tourismus mit Einsicht“ (TmE) gewirbelt. Die AG, die besonders auf der weltgrößten Tourismusmesse ITB in Berlin enorme mediale Bedachtung fand, existiert nicht mehr. Dass sie die Umweltverträglichkeit im Tourismus zum öffentlichkeitswirksamen Thema machte, meint Ludmilla im Rückblick, habe sich doch gelohnt. Die Macherin setzt die Grenzen des Machbaren niedriger, sei es in der Tourismusdiskussion oder in der Menschenrechtsarbeit. „Ich habe zunehmend die Schnauze voll. Weil selbst die Menschenrechtler so korrupt und die Mehrheit unter den NGO-Aktivisten nur Absahner sind.“

Enttäuschungen verarbeitet sie am besten beim Bergwandern. Sie ist süchtig danach. Egomanische Gipfelstürmer wie Reinhold Messner sind ihr ein Gräuel. „Was soll ich auf dem Gipfel? Ich guck mir die nur an, außerdem wohnen da die Götter. Ich will nicht in die Vertikale, mich interessiert nur die Horizontale.“ Auf dieser geht sie zielstrebig ihr neues Projekt an: Sie will einen Roman schreiben. Eine Kiste voller guter Sprüche hat sie schon. Den Aufhänger auch.

Dreh- und Angelpunkt des Thrillers ist die nie aufgeklärte Bergtragödie während einer Trekkingreise in Nepal und die Verwicklungen des Reiseveranstalters DAV Summit Club, des kommerziellen Ablegers vom Deutschen Alpenverein. Zehn deutsche und Schweizer Touristen sowie ein Sherpaführer stürzten 1994 am 6.091 Meter hohen Pisang tödlich ab. War’s ein Fehltritt, Mitreißunfall, Schneebrett oder der Bruch einer Schneewächte? Welche Seilschaften gab es zwischen dem internationalen Reiseveranstalter, der einheimischen Partneragentur und nepalesischen Behörden? Ludmilla recherchierte. Sie wurde bedroht und verleumdet. Stoff genug für einen neuen Bestseller.

Einstweilen verdient Ludmilla ihr Geld im touristischen Umfeld. Unter anderem erstellt sie TourismWatch, einen Informationsdienst zum Dritte-Welt-Tourismus. Zum Romanschreiben hat sie noch ihr halbes Leben. Im Mai wird sie 54 Jahre. 108 will sie werden.

GÜNTER ERMLICH lebt als freier Autor in Bochum; EDITH KRESTA ist Reiseredakteurin der taz