: Multikulti: Kein Dogma
Die Nato will ein multiethnisches Kosovo schaffen. Aber es zeigt sich, dass sich auf dem Balkan Sicherheit und Ordnung nur dadurch herstellen lassen, dass sich die Ethnien meiden
von SIBYLLE TÖNNIES
Mitrovica. Mit Gewalt wird dem nördlich des Flusses liegenden serbischen Wohngebiet eine albanische Minderheit aufgedrückt, werden albanische Familien unter schwerer Eskorte in ihre alten Wohnungen geführt, wo sie über, unter und neben sich feindliche Serben vorfinden. Das kann nicht gut gehen und geht auch nicht gut. Die Aktion forderte schon vierzig Verletzte.
Mit solchen Fehlern verspielt die Nato-Aktion den Kredit, den sie sonst vielleicht genießen könnte. Denn so anfechtbar der Kosovo-Einsatz ist, so schädlich dem Völkerrecht und so bedrohlich für den Weltfrieden – er könnte eine Chance bergen: dass er eine Weltpolizei vorbereitet, die zwar richtigerweise auf kontraktuellem Wege entstünde, realistischerweise aber wohl nur auf dem wilden etablierbar ist.
Der Nato-Einsatz war bedrohlich für den Weltfrieden – könnte aber eine Weltpolizei vorbereiten
Diese Chance, durch Unrecht das Richtige zu tun, bestünde jedoch nur, wenn der Einsatz auch tatsächlich polizeilichen Charakter hätte. Er bleibt aber leider ganz im Militärischen verhaftet. Das polizeiliche unterscheidet sich von dem militärischen Vorgehen dadurch, dass es keine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, sondern nur eine einzige Aufgabe kennt: die Herstellung von Sicherheit und Ordnung. Die Nato aber, die auf dem Balkan Politik mit militärischen Mitteln macht, hat ein Ziel weit jenseits davon: Sie will ein multiethnisches Kosovo schaffen. Das verträgt sich nicht mit der polizeilichen Aufgabe. Sicherheit und Ordnung lassen sich in dieser Region nur dadurch herstellen, dass sich die Ethnien meiden. Was unter polizeilichem Gesichtspunkt ein Glücksfall ist – die physische Trennung der Kombattanten durch einen Fluss – wird unter dem Gesichtspunkt des militärischen Ziels zum Missstand, dem abzuhelfen ist.
Die der Zielsetzung Sicherheit und Ordnung zuwiderlaufende Maßnahme, ihre von außen kommende, künstliche Zielsetzung speist sich ideologisch aus politischer Korrektheit. In den Zusammenhang der Menschenrechtskultur, die den geistigen Hintergrund des Einsatzes bildet, gehört eine Idealvorstellung, die wir alle teilen: das Konzept vom kosmopolitischen Individuum, das sich von Stammesbezügen und religiösen Schranken freigemacht hat. United Colours of Benetton. Das ist – von Benetton abgesehen – sicherlich ein höher entwickelter Zustand als das Zusammenleben ethnisch-religiös homogener Gruppen.
Wir wollen dieses kosmopolitische Fernziel nie aus den Augen verlieren. Es entspricht einem der Menschheit auferlegten moralischen Gesetz. Der Geist muss sich gegen die Natur, das Prinzip der Gesellschaft muss sich gegen das Prinzip der Gemeinschaft durchsetzen. Das aber will die politische Korrektheit nicht wahrhaben: Fremdenfeindlichkeit ist keine neue Gefahr, sondern der natürliche Ausgangspunkt, von dem aus die Menschheit – langsam, aber sicher – zu dem geistgelenkten und insofern artifiziellen Ziel des kosmopolitischen Zusammenlebens wandert.
Politische Korrektheit. Anfang der Achtzigerjahre gründeten akademische Linke in Bremen einen Hilfsverein für ausländische Studenten, den sie Xenos nannten. Sie erläuterten diesen Begriff bei ihren Spendenaufrufen so: die Griechen hätten nur ein Wort für „der Gast“ und „der Fremde“ gehabt, nämlich Xenos, und diese Gleichsetzung stellten sie als vorbildlich hin. Das ist sie auch. Aber keineswegs haben die Griechen diesem Ideal entsprochen. Sie nannten den Fremden nur insoweit Xenos, als er Gast war, und das war er nur sehr ausnahmsweise. Normalerweise hieß der Fremde bei ihnen „Barbar“. Dieses bis heute beliebte Wort geht auf die Vorstellung zurück, dass die Fremden keine Sprache haben, sondern nur „barbarbar“ sagen können. Entsprechend fühlten sich die Griechen auch frei, Fremde kollektiv umzubringen.
Diese kleine Unrichtigkeit in der historischen Einschätzung könnte längst vergessen sein, wenn sie nicht so kennzeichnend für den aus politischer Korrektheit fließenden Irrtum wäre, dass den Menschen die Fremdenfreundlichkeit ursprünglich und natürlich ist. Die großen multiethnischen Reiche waren keine freiwilligen Agglomerationen, sondern Ergebnis gewaltsamer Unterwerfungen. Und das, was wir heute „Völkerwanderung“ nennen, war nicht das Ergebnis eines Bewegungsdrangs der Völker, sondern eine Anhäufung ethnischer Vertreibungen.
Fremdenfeindlichkeit ist keine neue Gefahr, sondern der Ausgangspunktder Menschheit
Vergessen wir nicht, dass der Fluss, der in Mitrovica so gnädig die Ethnien trennt, eine unsere ganze Geschichte markierende Grenze darstellt: die immer gewaltsam umkämpfte Grenze zwischen dem Abend- und dem Morgenland, zwischen den Christen und den Türken. Wenn es zwischendurch lichte Augenblicke eines multikulturellen Zusammenlebens gegeben hat, so waren das Vorgriffe auf eine noch nicht erreichte bessere Zukunft, die nicht stabil werden konnten.
Zum Schluss ein Zitat von Schiller, der sich die Frage nach der richtigen Weise der „Staatsverwandlung nach moralischem Prinzip“ stellte, nach der Art, „wie sich der Staatskünstler seiner Materie naht“. In seinem 1794 geschriebenen Essay „Über die ästhetische Erziehung“ mahnte er, bei der Einführung vernunftdiktierter, moralischer Prinzipien äußerst vorsichtig vorzugehen. Er hatte dabei das Umschlagen der Französischen Revolution im Auge. Dieser katastrophale Vorgang – bei dem es allerdings nicht um die horizontale Ordnung der Völker, sondern um die vertikale der Klassen ging – ist bis heute eine weltgeschichtliche Lektion dafür, dass der Fortschritt in Richtung auf eine vollkommenere Ordnung nicht gewaltsam überstürzt werden darf. Schiller, der hinter den Ideen der Revolution stand wie kein anderer, hatte zwar keinen Zweifel daran, dass das von der Vernunft diktierte Gesetz Freiheit und Gleichheit fordert. Die Revolution aber hatte bei der Anwendung dieses Gesetzes die vormoralische Ordnung der Klassengesellschaft, die Schiller „Naturstaat“ nennt, weggerissen, noch bevor sich die höhere, aus der „Tierheit“ in die „Menschheit“ führende Ordnung hätte ausreichend etablieren können.
Schiller warnt: „Hebt die Vernunft den Naturstaat auf, wie sie notwendig muss, wenn sie den ihrigen an die Stelle setzen will, . . . so wagt sie die Existenz der Gesellschaft an ein bloß mögliches (wenn gleich moralisch notwendiges) Ideal von Gesellschaft. Sie nimmt dem Menschen etwas, das er wirklich besitzt, und ohne welches er nichts besitzt, und weist ihn dafür an etwas an, das er besitzen könnte und sollte; und hätte sie zu viel auf ihn gerechnet, so würde sie ihm für eine Menschheit, die ihm noch mangelt und unbeschadet seiner Existenz mangeln kann, auch selbst die Mittel zur Tierheit entrissen haben, die doch die Bedingung seiner Menschheit ist. Ehe er Zeit gehabt hätte, sich mit seinem Willen an dem Gesetz fest zu halten, hätte sie unter seinen Füßen die Leiter der Natur weggezogen.“
Obwohl die Nato-Aktionen halbwegs geordnet zu sein scheinen und nicht mit Fanatismus einhergehen, steht hinter der Art und Weise, gewaltsam die Menschenrechte durchzusetzen und Kosmopolitismus zu erzeugen, ein historisch unbelehrtes geistiges Jakobinertum, das genauso viel Schaden anrichtet wie das Wüten der Guillotine, das Schiller im Auge hatte.
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